Der 24. Tewet ist der Jahrzeitstag des "Alten Rebben" – das ist R. Schneur Salman, der Begründer des ChaBaD-Lubawitsch-Chassidismus. Die heutige Betrachtung stützt sich auf eine seiner scharfsinnigen Erklärungen.
Während seiner Gefängnishaft im Jahre 1798 wurde R. Schneur Salman von einem Minister der russischen Regierung aufgesucht, der ihn aufforderte, ihm doch G-ttes Ruf an Adam zu erklären, der da lautete (Genesis 3, 9): "Wo bist du?" Wusste G-tt denn nicht, wo Adam war? – Der Rebbe seinerseits fragte den Besucher, ob er daran glaube, dass die Tora G-ttes Wort sei und alle Menschen angehe. Als der Minister diese Frage mit "ja" beantwortete, gab der Rebbe ihm seine Erklärung wie folgt:
"Dauernd ergeht G-ttes Ruf an alle Menschen: Wo bist du? Wie hast du die Jahre des Lebens, die Ich dir gegeben habe, genutzt? Was hast du erzielt, und welche Aufgaben hättest du eigentlich erfüllen sollen?"
Die Tora ist ewig gültig; in ihrer Gesamtheit ist sie für jedes Zeitalter erheblich. So ist denn auch G-ttes Frage und Forderung "Wo bist du?" in jedem Augenblick an jeden einzelnen Menschen gerichtet. In unseren eigenen Tagen ist dies eine Frage, welche viele Juden, besonders auch unsere jungen Menschen, sich dauernd stellen: "Wo bin ich? Was ist mein Lebenszweck? Welche Leistungen werden von mir erwartet?"
Diese Art von Selbstbefragung geht häufig auf Gefühle zurück, die von enttäuschtem Ehrgeiz, von unerreichten Idealen ausgelöst werden, wie gerade Frustrationen dieser Natur Motiv und Ursache für die weit verbreitete Unruhe und den Aufruhr in der Jugend sind. Warum aber sollte gerade ein Jude heutzutage, in unserer Wohlstandsgesellschaft, sich so sehr der Enttäuschung hingeben wollen? Was ist der tatsächliche Grund für dieses Gefühl, versagt zu haben?
In neuerer Zeit hat die Wissenschaft (Psychologie und Psychoanalyse) in steigendem Grade den "Bereich des Unterbewusstseins" unter die Lupe genommen. Jemand mag sich seiner eigentlichen Veranlagung, seines "geistigen Zustandes" wie auch seiner Unzulänglichkeiten überhaupt nicht bewusst sein, und zwar deshalb, weil er gewisse innere Impulse ständig unterdrückt und unterbindet. Das hat dazu geführt, dass das einzige, dessen er sich am Ende noch bewusst ist, dieses Gefühl von Enttäuschung, Missvergnügen und Unzufriedenheit ist.
So steht es auch mit dem Juden als Juden. In jedem von uns ist ein innerer Drang vorhanden, seine "Neschama" (seine G-ttliche Seele) zur Entfaltung zu bringen. Viele jedoch verlieren sich in einem System von Aktivitäten, die lediglich nach außen hin wie eine jüdische Lebensweise aussehen, oder sie konzentrieren sich allein auf eine religiöse Handlung, die (natürlich mit voller Berechtigung) das "jüdische Herz" angeht, die jedoch den Kern der jüdischen Lebensweise unbeachtet lässt – die tägliche Ausführung von Mizwot. Damit aber wird die Religion zu einer "Drei-Tage-im-Jahre"-Angelegenheit reduziert, oder sie wird ausschließlich zu einer Sache von Jahrzeiten und Totengedenkfeiern. Wichtig wie diese Dinge sind, geben sie dennoch der "Neschama" nicht ihre volle Befriedigung; und so findet jener innere Drang nicht seine wahre Erfüllung sondern er wird unterdrückt, mit dem Ergebnis, dass sich eben jene Gefühle von Frustration einstellen.
Trotzdem darf keiner meinen, er habe nun auf die Dauer jeden Kontakt mit dem wesentlichen Judentum verloren. G-tt verlangt nicht das Unmögliche, und nachdem Er dem Menschen ein Ziel vorgesetzt hat, hat Er ihm auch die Fähigkeit verliehen, dieses zu erreichen. Was Er von jedem erwartet, das ist, dass man seine Lebensaufgabe aus freiem Willen erfüllt, allen Versuchungen und Schwierigkeiten zum Trotz. Wer immer sich "verloren" dünkt, braucht in Wahrheit sich nur ehrlich die Frage zu stellen: "Wo bist du?" – und schon ist er auf dem Wege, seinen wahren jüdischen Standort wiederzufinden.
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