Mit der dieswöchigen Sidra Schmot beginnt die Tora ihre Schilderung des Auszuges der Israeliten aus Ägypten, wie dieser dann schließlich in der Offenbarung der Tora am Sinai kulminierte. Die Mizwot, die wir seit dieser Sinai-Gesetzgebung erfüllen, unterscheiden sich in gewisser Beziehung von den Vorschriften, die unsere Ahnen vorher ausübten, und zwar darin, dass sie (erstens) G-ttes ausdrückliche Gebote sind, und dass sie (zweitens) die physische Welt mit dauerhafter Heiligkeit durchdringen und erfüllen.

Auf dieser Ebene werden dann die materiellen Dinge, die für die Ausführung der Mizwot benötigt werden (zum Beispiel das Leder der Tefillin-Riemen, das Widderhorn als Schofar und dgl.), so erhöht und verfeinert, dass ihnen selbst ein Maß von Heiligkeit innewohnt. Daraus folgt, dass die Mizwot mit natürlichen Mitteln, nicht aber mit der Hilfe von Wundern, ausgeführt werden sollen; denn eben um die natürliche Welt zu läutern, zu weihen, zu "vergeistigen", müssen die Mizwot selbst innerhalb der Natur, nicht überhalb der Natur, existieren und Realität haben.

Unsere Sidra Schmot kommt in der Synagoge immer nahe dem Datum des 24. Tewet zur Vorlesung; das ist der Jahrzeitstag von R. Schneur Salman von Liadi, dem Begründer von Chabad-Lubawitsch, der im Jahre 1813 starb. Ein Vorfall aus seiner Lebensgeschichte mag dazu beitragen, die oben aufgestellte These zu illustrieren und zu unterbauen.

Als R. Schneur Salman (im Jahre 1798) in zaristischer Gefangenschaft war, kam es mehrfach vor, dass er aus seiner Zelle in der Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg herausgeführt und mit der Fähre über die Newa gebracht wurde, um in einem anderen Teil der Stadt von Gefangenen-Aufsehern vernommen zu werden. Bei einer solchen Gelegenheit bat er einmal den Boots-Offizier, die Fähre vorübergehend zum Stillstand zu bringen, damit er den Segensspruch über den Neuen Mond sagen könne. Jener weigerte sich, woraufhin der Rabbi ihm kurz und bündig erklärte, er würde selbst, sollte er es so wollen, die Fähre zum Halten bringen. Wiederum weigerte sich der Offizier; und da auf einmal blieb die Fähre stehen!

Sofort rezitierte R. Schneur Salman die einführenden Gebete für den Segensspruch, nicht aber den Segensspruch selber; und schon geriet das Boot wieder in Bewegung und fuhr weiter. Erneut ersuchte der Rebbe den Offizier, die Fähre anzuhalten; und diesmal tat es der Offizier auch – jedoch erst, nachdem er den Reben um eine auf ein Stück Papier geschriebene Segnung ersucht und diese auch erhalten hatte. Danach führte R. Schneur Salman die Mizwa von Kiddusch Lewana (Heiligung des Neuen Mondes) mit der Rezitation des Segensspruches durch und zu Ende. (Der Offizier selbst wurde bald danach befördert und erlangte eine bedeutende Stellung. Er erreichte ein hohes Alter und wohnte nahe der Stadt Staradub. Zeit seines Lebens hielt er das Stück Papier mit R. Schneur Salmans Segnungen in Ehren; er bewahrte es unter Glas in einem goldenen Rahmen auf.)

Der "springende Punkt" ist dieser: R. Schneur Salman hätte sehr wohl die ganze Mizwa beim ersten Anhalten des Bootes ausüben können. Er wartete jedoch, bis der Offizier freiwillig – und mit natürlichen Mitteln – die Fähre stoppte, so dass sogar die Einleitung und Vorbedingungen zu der Mizwa (nämlich Stillstand und nicht Bewegung) mit natürlichen Mitteln, nicht aber durch ein Wunder, erzielt und so zur Ausübung kommen würden.