Frage?
Ich habe in der chassidischen Literatur gesehen, dass die Gesetze des Talmuds dort als "die Weisheit und der Wille G-ttes" bezeichnet werden. Um ehrlich zu sein, ich verstehe nicht, was daran so weise sein soll, wenn dort beschrieben wird, wie ein Kleidungsstück, über das sich zwei streiten, aufgeteilt werden soll, oder warum G-tt so sehr an der ganzen Prozedur des Kaufes eines Esels interessiert sein soll. Gibt es da etwas, das mir entgeht?
Antwort!
Ihre Frage wird ausführlich im klassischen Werk "Tanja" von Rabbi Schneor Salman von Liadi (4. und 5. Kapitel) behandelt. Doch schon viele andere vor ihm haben sich bereits mit dieser Frage auseinandergesetzt, von Rabbi Saadia Gaon bis zu Maimonides bis zu Rabbi Schimon Ben Aderet bis zu Rabbi Jehuda Löw von Prag. Jedoch ist die Erklärung im Tanja verständlich und absolut zufriedenstellend.
Es wäre schwierig für mich, dem dort Aufgeführten gerecht zu werden und ich empfehle Ihnen das eigene Studium. Ich werde jedoch versuchen, die Grundidee hier zusammenzufassen:
Eine Weisheit mit Zugriff nur für Engel oder erleuchtete Wesen ist eine beschränkte Weisheit. Von der Tora wird gesagt, dass sie die Weisheit G-ttes ist und daher muss sie grenzenlos sein. So wie G-tt überall und in allem ist, während Er gleichzeitig alles übersteigt, so muss auch Seine Weisheit eine Weisheit sein, zu die das fünf-jährige Kind und der große Gelehrte gleichermaßen Zugang haben – solange es einen Verstand gibt, der diese Weisheit empfangen kann. Geschichten über zwei streitende Brüder regeln, wie umstrittenes Eigentum geteilt werden soll. Das sind einfache Angelegenheiten, auf die sich jeder beziehen kann. Trotzdem können wir in der Art und Weise, in der sich die mündliche Tora damit befasst, eine Quelle unendlicher Weisheit finden.
Als die Weisen die Tora mit Wasser verglichen1, erklärt Rabbi Schneor Salman, meinten sie folgende Eigenschaft: So wie Wasser vom höchsten zum niedrigsten Platz ohne sich zu verändern hinunter fließt, so steigt auch die Tora von ihrem Platz in den höchsten Ebenen hinunter, um in die weltlichen, materiellen Angelegenheiten eingegliedert zu werden, so dass sie jeder Mensch erfassen kann – ohne dass diese Weisheit sich dabei in ihrem Wesen verändert.
Nach genauerer Beobachtung werden Sie feststellen, dass Rabbi Schneor Salman hier die Paradigmen austauscht. Wie Sie es hervorgehoben haben, zu entscheiden, was mit einem Kleidungsstück getan werden soll, auf das zwei Parteien Anspruch erheben, ist nicht die ultimative Anzeigeleistung. Das ist genauso, als würden wir sagen, "dieser Professor ist so klug, er weiß, wie ein Paar Schuhe zu kaufen sind." Das Genie des Professors kann in seinen Lösungen zu Differenzial-Gleichungen, in seinen Dialogen mit Fachleuten oder in seinen letzten Thesen gefunden werden. Schuhe zu kaufen kann er anderen überlassen. Mit G-tt trifft das unendlich genauer zu, da Seine Weisheit selbst unendlich ist.
Um G-ttes Weisheit im Talmud zu entdecken, müssen wir nicht nur den Inhalt des Problems und seine Lösung überprüfen, sondern auch den Prozess, wie wir zur Lösung kommen. Der Inhalt, wie z.B. Scheidungsbriefe, Kühe und Esel, Anzeichen koscherer Tiere, sind ganz einfach das äußere Gewand, in das eine tiefgründigere Weisheit gekleidet ist. Die eigentliche Weisheit kann entdeckt werden, sobald wir die intellektuelle Orientierung hinter diesen Diskussionen ableiten können - nicht die Gedanken, sondern die Art des Denkens. In der Tat könnten Sie in Ihrem Talmud-Studium entdeckt haben, dass die Vorgehensweise der Tora und unserer Weisen beim Lösen dieser Themen oft sonderbar erscheint. Doch nach eingehender Überlegung wird es offensichtlich, dass sich eine andere Intelligenzform unter der Oberfläche verbirgt.
Vielleicht kann der Professor dasselbe tun. Vielleicht kann er z.B. beim Schuhkauf seine Fähigkeiten in Spieltheorie anwenden, um ein Paar Schuhe zu erwerben. Wir tun das übrigens oft, wenn wir die Methode des Gleichnisses verwenden.
Das Gleichnis ist eine einfache Geschichte, die eine tiefgründige Weisheit enthält. Ob es sich nun um Aesops Fabeln oder um Orwells Tier-Farm handelt, die Pointe des Gleichnisses ist nicht ihr Inhalt – nicht die Essgewohnheiten der Wölfe oder die sozialen Sitten der Schweine – sondern die Idee, die der Autor in diese Kleider verpackt, um uns eine tiefgründigere Idee zu übermitteln.
Auf dieselbe Weise sind alle Halachot (Gesetze) des Talmuds, genauso wie die Geschichten des Tanach (Bibel) G-ttes Gleichnisse. Der Unterschied besteht darin, dass menschliche Gleichnisse die Früchte menschlicher Fantasie darstellen. Wenn G-tt jedoch ein Gleichnis erschafft, ereignet sich dieses in der Welt. Letzten Endes ist unsere gesamte Welt nichts weiter als eine Bühne, auf der sich diese Parabeln abspielen.
Das sind auch die Mizwot, die wir ausführen. So wie die Geschichten des Tanach die Kristallisation G-ttes Weisheit sind, so sind unsere Mizwot die Ausführung dieser Weisheit auf der physischen Ebene. In der Sprache des Tanja‘s, wenn wir eine Mizwa ausführen, werden wir von G-ttes Verstand und Wunsch eingefasst.
Ein weiteres Beispiel: Ich habe einst im Bereich der Multimedia gearbeitet und sogar einen Kurs gegeben, wie herkömmliche Medien zu "neuen Medien" umgerüstet werden. Wie verwandeln wir einen Film in ein interaktives Spiel? Wir tun das nicht. Wir gehen auf den (Erfindungs-)Geist des Autors zurück und fangen von vorn an. Wir sagen: Der Autor hat diese Geschichte verfasst, um sein Verständnis von der Welt und von ihrer Arbeitsweise auszudrücken. Wenn er dieselben Ideen in einem Spiel ausdrücken wollte, wie würde das geschehen?
Keines dieser Beispiele ist wirklich zufriedenstellend, denn beide könnten wir lesen, als wollten sie uns mitteilen, dass es da einen tiefgründigeren Inhalt gibt, der sich hinter dem Inhalt versteckt. Wir sprechen in diesem Fall von einer qualitativen Unterscheidung zwischen dem Inhalt und dem Prozess. Es lässt sich jedoch auch auf eine andere Weise ausdrücken:
Mathematik wird normalerweise unterrichtet, indem wir einem Lehrbuch folgen. Nehmen wir einmal an, dass ein richtiger Mathematiker, einer derjenigen, die glänzende neue Erkenntnisse und Anwendungsmöglichkeiten entwickeln, den Kurs unterrichtet. Er mag dieselben Formeln und Prinzipien besorgen. Doch werden Sie dabei nicht nur Mathematik lernen, sondern Sie werden lernen, wie ein Mathematiker zu denken.
Auf ähnliche Weise behandelt auch Tora nicht nur die Frage "was G-tt wohl denken mag" sondern "wie können wir wie G-tt denken". G-tt kann über alles denken, was Er will. Der Kernpunkt ist nicht das Thema, sondern seine Behandlung. Daher konzentriert sich das Tora-Lernen, im Gegensatz zu typischen, akademischen Studien, mehr auf den Prozess des Lernens, als auf den Inhalt. Mehr auf "was wir hier haben" als auf "wo wir hingehen".
Über die Jahrhunderte haben viele brillante Köpfe diese Denkweise adoptiert und jeder von ihnen hat sie in seinen eigenen Begriffen zum Ausdruck gebracht. In jüngerer Zeit hat zum Beispiel Rabbi Chaim Soloveitschik von Brisk viele talmudische Debatten zu einem Subjekt/Objekt-Paradigma vereinfacht. Rabbi Josef Rosen von Rogatchov hat gezeigt, dass viele der berühmten Debatten zwischen den Weisen Abbaje und Rava Debatten über die Beschaffenheit der Zeit sind – ist sie eine Serie an Punkten oder ein fließend änderndes Kontinuum. Rabbi Josef Sevin hat veranschaulicht, dass die Schüler Hillels und die Schüler Schammais im Verlauf des ganzen Talmuds eigentlich eine einzige Debatte führen: Was hat Vorrang: Das, was potentiell sein könnte und sollte - oder das, was tatsächlich vorhanden ist?
Selbst dann sind diese Ausdrücke immer noch lediglich das äußere Gewand. Das innere Gewand, wie wir gesagt haben, ist etwas Grenzenloses mit unendlichen Ausdrucksweisen, etwas das wir nie in eine Glasdose einschließen können und sagen: "Wir haben es!" Wer kann sagen, dass Rabbi Soloveitschik, Rabbi Rosen oder Rabbi Sevins Begriffsvermögen, was G-tt betrifft, näher an G-tt ist, als dasjenige eines kleinen Kindes? Wie es einer meiner Lehrer auszudrücken pflegte: "Wenn ihr einen Absatz im Talmud studiert habt bis sich alles zusammenzureimen scheint, glatt und sauber, habt ihr ihn wahrscheinlich falsch verstanden. Wie kann es sein, dass der Verstand des Schöpfers mit dem Verstand eines erschaffenen Wesens erfasst werden kann? Jeder Zugriff ist beides gleichzeitig – perfekt und imperfekt.
Das Wichtigste ist, den Talmud mit einem Lehrer zu studieren, der Ihnen seine Tiefgründigkeit offenbaren kann, der Sie lehren kann, die richtigen Fragen zu stellen und unter die Oberfläche jeder Antwort zu blicken. Und jeden Augenblick daran zu denken, dass Sie hier nicht nur ein weiteres, intellektuelles Spiel spielen. Sie spielen ein unendliches Spiel. Es heißt: "Lasst uns wie G-tt denken". In der Tat, sagt der Tanja, wenn Sie lernen, macht Ihr Verstand nicht nur Bekanntschaft mit G-ttes Willen und Weisheit, sondern Ihr Verstand wird eins mit Ihm.
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