"Lauscht, ihr Himmel, und ich will sprechen, und die Erde möge die Reden meines Mundes hören" (Deut. 32, 1) – Mit diesen Worten beginnt die dieswöchige Sidra Haasinu.

Der Midrasch erläutert dazu, dass Moses, der zu jenem Zeitpunkt bereits "dem Himmel nahe" war (das heißt, dass er kurz vor seinem Tode stand), mit dem Ausdruck "lauschen", den er dem Himmel gegenüber benutzte, einen Hinweis gab, dass der "Lauscher" nahebei ist. Zur Erde dagegen sagte er, sie möge "hören" – ein Wort, aus dem hervorgeht, dass zum Zuhörer ein Abstand besteht; denn Moses war nunmehr schon "weit entfernt von der Erde".

Die Tora enthält Lehren und Anweisungen für jeden einzelnen, leitet sich doch das Wort "Tora" selbst ab von "Hora'a" und das ist: "Belehrung". Aus dem eben zitierten Vers könnte man nun die Belehrung entnehmen, die Tora weise jeden Menschen an, "dem Himmel nahe und weit entfernt von der Erde" zu sein. Demgegenüber muss dann allerdings Jesajas Ausruf überraschen (Jes. 1, 2): "Hört, ihr Himmel, und lausche, o Erde", also in genau umgekehrter Ausdrucksweise; und der Midrasch (Sifri zu Deut. 32, 1) erklärt, dass Jesaja "weit entfernt vom Himmel und der Erde nahe" war. Wenn somit Jesaja, der als der größte unter den Propheten gilt, offenbar unfähig war, sich dem Himmel zu nähern und einen "Abstand" von der Erde zu gewinnen, wenn er also – wie zitiert – "weit entfernt vom Himmel und der Erde nahe" war, wie kam dann die Tora von einem gewöhnlichen Menschen überhaupt erwarten, oder ihm gar nahelegen, sich zu einem solchen Niveau emporzuschwingen? Und auch umgekehrt: Sollten wir tatsächlich nachweisen können, dass jeder einzelne dazu befähigt ist, dann ergibt sich sofort die Frage, wieso ausgerechnet Jesaja dies nicht konnte.

Wir dürfen das Problem in folgender Weise lösen:

Der Himmel versinnbildlicht die "himmlische" (das ist: die vergeistigte) Methode des Tora-Studiums während die Erde die "irdischen", also die praktischen Vorschriften – die Mizwot – vertritt, wie diese sich mit Dingen und Sachen befassen. Wenn jemand zum Beispiel wohltätige Spenden (Zedaka) gibt, dann widmet er dadurch seinen "irdischen", materiellen Gewinn einem edleren, mehr vergeistigten Zweck. Jeder dieser beiden Aspekte – Tora-Studium und die Einhaltung der Mizwot – hat eine einmalige und individuell verschiedene Eigenschaft. Das "Anhaften an G-tt" wird hauptsächlich durch das Tora-Studium erzielt. Die Veredlung und Vergeistigung der physischen Welt, um daraus einen angemessenen "Wohnsitz" für G-tt zu machen, wird in erster Linie durch die Ausübung der Mizwot ermöglicht.

In den ersten Stadien von Dienstleistung für G-tt muss man dem Himmel nahe und von der Erde entfernt sein. In jenen Anfangsstadien sollte die Stosskraft aller Bemühungen, im Wesentlichen, nicht darauf abzielen, die Welt ringsum zu läutern, sondern eifrig und freudig die Tora zu lernen. Selbstverständlich muss man die Mizwot beobachten und dies mit lebendiger Wärme, aber nur so weitgehend, wie das Tora-Gesetz dies vorschreibt; man muss also "weit entfernt von der Erde" sein.

Später aber, wenn all diese Dynamik fest gefügt und gebührend ausgerichtet ist, muss man dazu kommen, dass "nicht das Forschen, sondern das Tun den wesentlichen Kern" bildet ("Sprüche der Väter" 1, 17). Der Endzweck der menschlichen Existenz in der physischen Welt besteht darin, aus ihr einen "Wohnsitz für G-tt" zu machen.

Jesaja, dem Moses' Anweisung wohl als Stärkung gedient hatte, um durch sie "dem Himmel nahe und weit entfernt von der Erde" zu sein, konnte sich dann zu einem noch höheren Niveau emporschwingen, nämlich "der Erde nahe und weit entfernt vom Himmel" zu sein.