Jom Kippur: Über die Herausforderung, materielle und spirituelle Realität miteinander zu verbinden.
Am Schabbat vor Jom Kippur beginnt unsere Toralesung mit den Worten „Horcht Himmel, und höre Erde ...“. Wir befinden uns in diesem Leseabschnitt immer noch in der großen Abschiedsrede, die Moses dem Volk Israel vor seinem Ableben - und kurz vor dem Einzug in das Heilige Land - hielt. Moses hatte das Volk ausführlich gewarnt, wie wichtig und notwendig es ist, die Gebote der Tora zu halten. Nun ruft er Himmel und Erde als Zeugen für seine Mahnungen an.
Wie kommen ausgerechnet Himmel und Erde dazu? Es ist eine menschliche Eigenschaft, vor Sünden zurückzuschrecken, wenn jemand dabei ist, der sieht, was wir anstellen. In der Gegenwart des Lehrers Moses war nicht anzunehmen, dass jemand auf dumme Gedanken kommt. Da Moses aber wusste, dass er nun nicht mehr lange am Leben sein wird, brauchte er Zeugen, die auch künftig Bestand haben werden, - dafür waren Himmel und Erde bestens geeignet.
Wenn man nicht nur die Tora sondern auch die Prophetenbücher ausführlich lernt, so stößt man beim Propheten Jesaja auf einen Satz, der deutlich an dieses „Horcht Himmel, und höre Erde ...“ des Moses erinnert. Im ersten Kapitel des Buches Jesaja (das wir vor wenigen Wochen als Haftara zum Wochenabschnitt Dwarim gelesen haben) heißt es gleich im zweiten Satz: „Hört Himmel, und horche Erde ...“. Es geht dort bei Jesaja darum, dass das Volk Israel sündigt und dafür vom Propheten zurechtgewiesen wird. Offensichtlich ist der Fall eingetreten, dass Himmel und Erde, die Moses als Zeugen gerufen hat, nun zu einer - leider nicht sehr erfreulichen - Zeugenaussage antreten müssen.
Horchen oder Hören?
Unsere Gelehrten haben schon früh die Parallele zwischen diesen beiden Stellen gesehen und darauf hingewiesen. Eine Frage liegt dabei auf der Hand: Warum drückte sich Jesaja umgekehrt aus? Moses sagte zu den Himmeln, dass sie „horchen“ sollen, während er von der Erde verlangte zu „hören“. Jesaja tat genau das Umgekehrte, die Himmel sollten „hören“ und die Erde „horchen“.
Das hebräische Wort „haasinu“ („horcht“), mit dem wir es hier zu tun haben, drückt eine größere Nähe aus als bloßes Hören. Hören kann man auch einen Schall der von weit weg kommt, wenn nur die Lautstärke stark genug ist.
Doch horchen können wir nur an etwas, das uns ganz nahe ist. Im hebräischen Text wird das sogar noch deutlicher, denn im Wort „haasinu“ steckt „osen“ - das Ohr. Es ist also ein „das-Ohr-Neigen“ gemeint, ein Vorgang der Nähe voraussetzt.
Daraus läßt sich, sagt der Lubawitscher Rebbe, folgende Erklärung ableiten: Dem Moses waren die Himmel näher als die Erde, er fühlte eine so große Nähe zu G-tt, dass die Erde - also die materielle Ebene - das Andere, das Entfernte war. Jesaja hingegen war trotz all seiner spirituellen Größe mehr dem Bereich der Erde verbunden. Für ihn waren die Himmel eine höhere Sphäre, etwas Entferntes, zu dem er nicht in der Kategorie von „Horchen“ sondern nur in der von „Hören“ sprechen konnte.
Realität - materiell und spirituell
Wichtig ist jedoch dabei zu verstehen, dass beide sowohl Himmel als auch Erde erwähnten. Keiner konnte nur mit einem von beiden auskommen. Es ist unsere Aufgabe, spirituelle und materielle Realität nicht nebeneinander zu belassen, sondern miteinander zu verbinden.
Das heißt einerseits, spirituelles Erleben sozusagen „herabzuziehen“, bis es in weltlicher Erfahrung zum Ausdruck kommt (wie es der Beitrag von Moses war). Und das heißt andererseits weltliches Erleben so lange zu „heben“, bis seine spirituelle Dimension einfließt (wie es der Beitrag von Jesaja war).
Wir lesen diesen Toraabschnitt immer in der Zeit von Jom Kippur. Und wir können aus der erwähnten Notwendigkeit Himmel und Erde in unserem Leben zu wahren, eine Lehre für unseren Umgang mit Jom Kippur ableiten.
Himmel und Erde in Bewegung setzen
Jom Kippur ist der heiligste Tag des Jahres. Bereits die „Tage der Umkehr“ besonders der Jom Kippur selbst, sind von einer besonderen Nähe G-ttes gekennzeichnet. In diesen Tagen erleben wir etwas von diesem Gefühl, nahe beim Himmel zu sein. Nachher, wenn wieder der Alltag einkehrt, sind wir wieder näher bei der Erde. Und da sollen wir nicht vergessen, etwas von der Heiligkeit des Jom Kippur auch in den normalen Alltag mit hinüber zu nehmen. Denn das Wesen des Judentums verlangt, das Spirituelle mit dem Materiellen zu verbinden.
Diskutieren Sie mit