Gegen Ende unserer Toralesung erfahren wir von den Nachkommen Noachs – den drei Familien seiner Söhne Schem, Cham und Jafet und den daraus hervorgegangenen Völkern. Schem ist Stammvater des hebräischen Volkes. Im Stammbaum Jafets findet sich unter anderem Javan (Griechenland). Diese Herkunft des Javan aus dem Hause Jafet diente viel später in der jüdischen Geschichte noch zu einem wichtigen Hinweis:

Im Talmudtraktat Megilla (9a-b) wird die Zulässigkeit der berühmten griechischen Übersetzung der Tora, der »Septuaginta« diskutiert. Und dort dient ein Vers unseres Leseabschnitts als Hinweis darauf, dass Griechisch als Sprache für die Tora zulässig sei. Im Vers 9:27 heißt es nämlich »Möge G-tt es dem Jafet ausweiten, und er/Er wohne in den Zelten Schems ...«

»Er wohne« kann auf die G-ttliche Gegenwart (Schechina) bezogen werde, die in den Zelten Schems weilen möge. Aber man kann den Satz auch anders lesen und das Wort »er« auf Jafet münzen. Jafet kann – und soll – »in den Zelten Schems« wohnen, das heißt von Schems Lehre zehren. Dieses letztere Verständnis des Verses ist Basis für das Argument, dass die Tora in griechischer Sprache geschrieben werden darf.

Andererseits finden wir in manchen Quellen auch heftige Kritik an der griechischen Bibelübersetzung. »So schlimm wie das Goldene Kalb« sei jener Tag gewesen, an dem die Tora für den Ptolemäerkönig geschrieben wurde, heißt es da.

Wie läßt sich dieser Widerspruch erklären? Wenn es erlaubt ist, die Tora auf Griechisch zu schreiben,warum dann die Bedenken, wenn man es tatsächlich tut?

Der Lubawitscher Rebbe hat dazu folgendes erklärt: Das Septuaginta-Unternehmen wurde nicht auf der Basis gestartet »Eine griechische Fassung der Tora wäre ‘ne dufte Sache. Wohlan, lasst uns eine solche erstellen!« Sondern man gab die Septuaginta auf Befehl eines hellenistischen Herrschers heraus, und richtete sich dabei ganz nach dessen Bedingungen und Sonderwünschen. (So wird auch im Talmud eine ganze Liste von kleinen Abweichungen des griechischen Texts vom Original besprochen, die man mit Rücksicht auf den hellenistischen Auftraggeber in Kauf genommen hatte, teils um Missverständnisse zu vermeiden, teils aber auch, um Konflikten mit ihm aus dem Weg zu gehen.)

Diese Unterordnung der Übersetzer-Verfasser unter den hellenistischen Herrscher ist, was an ihr kritisiert wurde. Und ohne Mühe ist zu erkennen, dass es dabei nicht nur um das Übertragen der Tora in eine andere Sprache geht, sondern um den Umgang mit der Tora überhaupt. Das grundlegende Irrsal im hellenistischen Judentum war, dass nicht eine fremde Kultur bei ihrem Aufenthalt »in den Zelten Schems« eine Bereicherung erfahren, neue Werte vermittelt bekommen hätte, sondern im Gegenteil: Jüdisches Leben begann, sich den Werten Hellas’ unterzuordnen. Und das hellenistische Denken hält die Tora zwar in Ehren als hochwertiges literarisches Zeugnis, als interessantes Buch; einen g-ttlichen Ursprung dafür anzuerkennen, ist es aber keinesfalls bereit.

Von den Blütezeiten Hellas’ hinauf bis in unsere Zeit begegnen wir ständig ähnlichen Konflikten zwischen Philosophien, Doktrinen und Weltanschauungen unterschiedlichster Prägung auf der einen Seite und den Werten der Tora andererseits. Und bei all diesen Divergenzen ist stets zu beachten: Der Segen Noachs über »Schem« und »Jafet« funktioniert nur dann, wenn tatsächlich »Jafet« mit seiner Ästhetik und seinen materiellen Werten in das Zelt von »Schem« kommt, und nicht umgekehrt.