Bevor wir noch an die Wohnungstüre kamen, erreichte uns schon das Aroma der Hühnersuppe. Genug, um das Herz eines Sechsjährigen vor Freude hüpfen zu lassen. Mein liebster Tag im Jahr war endlich gekommen: Pessach bei Oma.

Der Sederabend verlief wie immer, Papa leitete die Zeremonie. Als es an der Zeit war, die Hände zu waschen, sprang Alvin auf und schnappte sich den Afikoman. Ich folgte meinem elfjährigem Bruder aus dem Zimmer. Alvin schlich sich in Omas hinterstes Zimmer. Hinter der Tür, in einem hohen Büchergestell fand Alvin eine alte Encyclopedia Britannica. Feierlich versteckte er den Afikoman im „Band A“, zwischen Afghanistan und Alaska.

Wir waren rechtzeitig für die Vier Fragen und das Festmahl zurück. Wie immer stopfte ich mich mit Mazza, Charoset und Eiern dermaßen voll, dass ich Omas berühmtes Brathuhn nicht einmal mehr versuchen konnte. Endlich war es Zeit für das Tischgebet.

„Wo hat denn Alvin dieses Jahr den Afikoman versteckt?“ Papa und Onkel Sammi machten halbherzige Anstalten, die fehlende Hälfte der Mazza zu finden, suchten hinter dem Fernseher und unter den Kissen, die das Sofa zierten.

„Okay, du hast uns am Wickel, Alvin“, sagte Onkel Sammi. „Wieviel willst du?“ „Eigentlich musst du mir nichts geben“, verlautete Alvin geheimnisvoll. Onkel Sammi hob die Hände. „Okay, du kriegst gleich nach Pessach zehn Dollar. Das ist das doppelt so viel, wie wir dir voriges Jahr gegeben haben.“ „Nein, danke. Wenn ihr den Seder beenden wollt, müsst ihr den Afikoman schon finden.“ „Ich bin schon zu alt für solche Spielchen!“ „Keine Spielchen. Wir alle wissen, dass wir den Seder nicht beenden können, wenn wir nicht vom Afikoman gegessen haben.“

Onkel Sammi zuckte mit den Schultern, „Von nun an sind seine Afikoman-Versteckrechte behördlich widerrufen. Du hast gewonnen, Alvin. Nach Pessach bekommst du zwanzig Dollar.“ Alvin erhob seine Hand, um sich die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen. „Hört mal alle zu. Ich will euch erklären, was ich meine.“

Selbst Oma steckte ihren Kopf zur Tür herein, um das zu hören. Alvin räusperte. „Ich habe viel nachgedacht. Im Herbst beginnt Kevin sein Studium in London, Ronny und Dani werden bald folgen. Sara wird wahrscheinlich den Arzt heiraten, mit dem sie ausgeht.“ Ihre Mutter lächte bei dieser Vorstellung.

„Bald werden wir alle getrennte Wege gehen“, fuhr Alvin fort. „Dieses Zusammentreffen, diese Tradition – sie werden nur noch Erinnerung sein. Also habe ich mir vorgestellt, was geschehen würde, wenn der Afikoman nicht gefunden wird. Es wäre ein Seder ohne Ende.“

Onkel Sammi wandte sich hilfesuchend an meinen Vater. „Ein endloser Seder? Sprich doch mit deinem Buben, Nathan!“

„Er macht Spaß. Ein ewiger Seder, das ist aber lustig, Alvin.“ „Ich mache keine Witze, Papa.“

„Eine wundervolle Idee, Alvin. Aber überlege dir: Wenn der Seder nie endet, würden wir den Schabbat versäumen, und auch Chanukka und deine Bar-Mizwa.“

„Chanukka“, überlegte Alvin leise. Papa legte die Hand auf seine Schulter. „Manchmal wünschen wir, die Zeit möge stillstehen – dass Dinge immer so bleiben, wie sie gerade sind. Doch ohne die Jahreszeiten wäre das Leben selbst nicht möglich. Es gäbe keine Sonnenaufgänge und keine neu erwachenden Tage mit all ihren Geheimnissen.“

„Wer weiß, nächstes Jahr werden wir vielleicht alle in Israel sein, Gerichte essen, die du noch nie gekostet hast und mit Verwandten feiern, die du noch nie gesehen hast.“

Alvin lächelte zum ersten Mal an diesem Abend. „Nächstes Jahr in Jerusalem, Papa“, sagte er. „Ja, Alvin, nächstes Jahr in Jerusalem.“