Vergangene Woche nahm ich an einem Lehrerweiterbildungskurs teil, um sich mit dem letzten Schrei moderner pädagogischer Erkenntnisse vertraut zu machen. Erst später wurde mir bewusst, dass mir hier eine ganz neue Perspektive und Einsicht zur „veralteten“ Haggada und den Traditionen der Seder Nacht geboten wurde. (Nur so lässt es sich erklären, dass ausgerechnet vor Pessach für diesen Zweck ausgewählt wurde). Der Kurs war in zwei geteilt, wobei wir uns im ersten Teil hauptsächlich mit dem Thema „Sonderpädagogik“ und „Diagnostik“ auseinandersetzten, während sich der zweite Teil mit dem neuen (oder auch nicht so neuen) Schlagwort „Offenes Lernen“ befasste.

Es wurde bald klar, dass das Denken über die Sonderpädagogik einen Wendepunkt erreicht hat, dass man gelernt hat, nicht alle Schüler nach einem einheitlichen Standart zu bewerten und schon gar nicht zu werten, sondern auf die spezifischen Eigenschaften eines jeden Schülers einzugehen. So werden immer mehr Schüler ein Fall für die „Sonderpädagogik“, da eigentlich jeder Schüler „etwas besonderes“ ist und der Lehrer wenn möglich auf die spezifischen Bedürfnisse jedes Einzelnen eingehen sollte.

Das Hauptanliegen der offenen Lehrmethode ist, die Kinder als mitentscheidende und mitbestimmende Persönlichkeiten zu fördern und es ihnen ermöglichen, den Unterricht selbst mitzugestalten und zu prägen, was auch ihr Interesse und ihre Aufnahmefähigkeit steigern soll.

Es gibt wohl kein anderes Thema, auf welches die Tora soviel Wert gelegt hat, es den Kindern und späteren Generationen weiter zu vermitteln, wie die Erlösung aus Ägypten. Wenn ich es mir erlauben dürfte, eine Aussage zu machen, die ich nicht beweisen kann, so würde ich behaupten, es gäbe auch keinen Lehrinhalt in der ganzen Welt, der über so viele Jahre mit einer unverminderten Intensität und Aussagekraft und auf die gleiche Methode von einer Generation zur nächsten weitervermittelt wurde, wie der Seder und die Haggada. Es lohnt sich bestimmt, dieses Phänomen zu studieren, um herauszufinden, wie es gelingen konnte, einen solchen Eindruck auf unzählige Generationen zu machen.

Tatsächlich können wir in Sachen Erziehung einiges vom Aufbau und der Methode des Seders lernen. So zum Beispiel beginnt der Seder mit den vier Fragen des „Ma Nischtana“, auf welchen dann die ganze Haggada basiert – „offenes lernen“. So auch müssen die Kinder von ihren Eltern nicht nur über das Exil in Ägypten hören, sie dürfen tatsächlich das selbe „Brot der Armut“ essen, welches auch das Los ihrer Vorväter in Ägypten gewesen war – „Mehrkanaliges lernen“. (Beim „mehrkanaligen lernen“ geht es darum, den Lehrstoff durch verschiedene Sinne wie Hören, Sehen, Riechen und Tasten aufzunehmen).

Dass wir heute frei sind und diese Freiheit auch geniessen können, wird im Elternhaus nicht nur diskutiert, sondern auch erlebt, wir essen wie die freien Herren auf einem Kissen angelehnt – „Handelndes Lernen“.

Und natürlich ist die besondere „Lernatmosphäre“ einer Familie, die feierlich bekleidet und mit dem schönsten Silber auf dem Tisch zusammen an einer Mahlzeit teilnimmt, besonders dazu geeignet, beim Kind eine „positive Lerneinstellung“ zu bewirken.

Vom Erzieher wird nicht nur verlangt, den Stoff den er schon seit Jahren vermittelt, von neuem zu lehren, sondern sich jedes Jahr von neuem vorzustellen, er sei selbst aus Ägypten erlöst worden. So wird der Lernstoff auch für den Erzieher aktuell und es kommt zum „Exemplarischen Lernen“.

Dass nur exemplarisches lernen gefragt ist, musste ein Privatlehrer der Kinder eines berühmten Rabbiners am eigenen Leibe erfahren. Obwohl er selbst nicht nach den moralischen Anforderungen seines Lehrstoffes lebte und handelte, war dieser ein hervorragender Lehrer. So war er doch ganz erstaunt, als ihm nach weniger als zwei Monaten Lehrtätigkeit die Kündigung eingereicht wurde. Auf die Frage, was er denn als Lehrer falsch gemacht habe, wurde ihm vom Rabbiner folgende Antwort gegeben: „Ich suche einen Lehrer, der meine Kinder lehrt, wie sie selbst gute Juden sein können. Sie dagegen lehren meine Kinder, wie man Andere lehrt, gute Menschen und Juden zu sein.“

In der Tora wird an vier verschiedenen Stellen geboten, den Kindern über „Jeziat Mitzrajim“ (Erlösung aus Ägypten) zu erzählen. Doch jedes Mal werden andere Worte verwendet, denn die Tora spricht von vier verschiedenen Kindern. Es ist die Aufgabe der Eltern, ihr Kind zuerst genau zu kennen „Diagnostik“ und dann bei jedem Kind die passende erzieherische Methode anzuwenden. Bei einem muss man die intelligente Frage zuerst abwarten, beim Anderen muss man die Neugierde erwecken – „Sonderpädagogik“.

Heutzutage, so lehrte der Lubawitscher Rebbe sz“l, haben wir es mit einem fünften Sohn zu tun. Während die vier Söhne in der Haggada auf irgend eine Art auf den Lehrinhalt des Seders reagieren, nimmt der fünfte Sohn an diesem Seder leider überhaupt nicht teil. Doch auch auf die Bedürfnisse dieses fünften Sohnes müssen wir eingehen.

In Kürze: der Seder lehrt uns, dass wir die Freiheit und Unabhängigkeit unserer Kinder nur dann gewährleisten können, wenn wir ihnen diejenigen Werte und eine solche Identität vermitteln, von der wir hoffen dürfen, dass sie auch unsere Nachkommen in 3000 Jahren noch erhalten und weiter vermitteln werden.