Es war eine dunkle, kalte Nacht in Russland vor etwa 150 Jahren. Der große chassidische Meister Rabbi Jehoschua Heschel von Apta saß in seinem Zimmer und las die Tora, als jemand an die Tür klopfte.

Es war drei Uhr morgens. Der Rebbe schlief fast nie; aber es war sehr ungewöhnlich, dass ihn jemand um diese Zeit besuchte – es sei denn, es war ein echter Notfall.

Ein offensichtlich verstörter Mann trat ein. Seine Kleider waren zerknittert, er sah aus, als habe er nicht geschlafen und schier verrückt vor Angst.

„Rebbe!“ rief er. Seine Augen waren rot vom Weinen und vor Müdigkeit. „Meine Frau liegt seit zehn Tagen in den Wehen, doch das Kind will einfach nicht kommen. Der Arzt sagt, er müsse operieren, aber er hat wenig Hoffnung. Bitte, Rebbe, helft uns; sagt mir, was ich tun soll!“

Der Rebbe faltete die Hände auf dem Tisch und senkte den Kopf, als wolle er meditieren oder beten.

Das tat er mehrere Minuten lang, während der arme Mann unruhig wartete. Sollte er gehen? Sollte er etwas sagen?

Endlich hob der Rebbe den Kopf und sagte feierlich: „Du kannst nach Hause gehen. Du hast einen Sohn. Deine Frau hat einen Knaben geboren. Masel Tow!“

Der Besucher traute seinen Ohren nicht. Warum war der Rebbe so ernst? Er ergriff die Hand des Rebbe und stammelte ungefähr zehnmal: „Ich danke Euch, ich danke Euch!“ Dann ging er rückwärts aus dem Zimmer, wobei er fast hinfiel, und rannte nach Hause.

Kaum hatte er die Tür geöffnet, hörte er die Schreie seines Kindes. Seine Frau war erschöpft, aber lebendig, und sie lächelte sogar ein wenig. Er brach in Freudentränen aus. Es war ein Wunder!

Am nächsten Tag kehrte er zum Rebbe zurück, um für seine Aufdringlichkeit am vorigen Abend um Verzeihung zu bitten und um sich erneut zu bedanken. Aber die Chassidim hielten ihn auf, ehe er eintreten konnte, und drängten ihn, den Rebbe zu fragen, was er gestern getan habe – was hatte der Rebbe getan, als er den Kopf minutenlang auf die Arme gelegt hatte?

Zuerst weigerte sich der Mann. Doch schließlich erklärte er sich bereit, die Frage zu stellen. Das tat er demütig, bevor er das Zimmer des Rebbe verließ. Ernst antwortete der Rebbe:

„Dein Sohn hat eine sehr spirituelle Seele. Sie wollte sich nicht von der spirituellen Wahrheit des Himmels trennen und in eine Welt der Falschheit und der Sorgen hinabsteigen.

Darum habe ich mit ihr gesprochen. Ich versprach ihr, sie werde auf dieser Welt besondere Kräfte haben, die selbst auf den höchsten spirituellen Ebenen nicht verfügbar seien. Dank dieser Kräfte werde sie G-tt jenseits aller Grenzen dienen können.

Erst dann war die Seele deines Kindes bereit, auf die Erde zu kommen.“

Als die Chassidim das hörten, interessierten sie sich sehr für dieses Kind. Was für ein großer Mensch es werden würde! Sie beschlossen, es im Auge zu behalten.

Ein Jahr nach der Geburt des Knaben starb seine Mutter, sieben Jahre später auch sein Vater. Nun war er ein Waise.

Man schickte ihn von einem Verwandten zum anderen. Die Chassidim taten, was sie konnten, um ihm zu helfen; dennoch litt er unter seiner Armut und unter den schrecklichen Verfolgungen, die Zar Nikolaus angezettelt hatte.

Als der Knabe zehn Jahre alt war, wurde er zusammen mit einem Gefährten zur Armee eingezogen. (Damals wurden jüdische Knaben auf Befehl des Zaren in die Armee gezwungen, denn man wollte, dass sie zum Christentum übertraten.) Von da an konnten die Chassidim ihm nur noch schreiben. Sie schrieben ihm einmal die Woche, und er antwortete, so schnell er konnte.

In seinen seltenen Briefen berichtete er, dass man ihn und seine Freunde quälte, weil sie versuchten, den Schabbat einzuhalten. Aber er sei entschlossen, dem G-tt seiner Väter treu zu bleiben.

Dann kamen keine Briefe mehr.

Ein halbes Jahr später bekamen sie einen Brief vom Freund des Jungen. Er berichtete, der Junge sei an den Schlägen gestorben, die man ihm verabreicht habe, weil er kein Christ werden wollte.