Reb Josef lebte in Beschenkowitsch. Er war kein gewöhnlicher Mann. Er kannte den Talmud fast auswendig und genoss bei den Gelehrten der Stadt großes Ansehen. Als er im Jahr 1804 den Rebbe, R` Schneur Salman, besuchte, sagte dieser zu ihm: „Für dein Seelenheil wäre es besser, kein Rabbiner, sondern ein Wagenlenker zu sein.“
Jahre vergingen. 1814 bot man Reb Josef das Rabbinat in der Stadt Liepel an. Reb Josef erinnerte sich an die Worte des Rebbe vor zehn Jahren, und er erkannte, dass es nun Zeit war, den Rat zu befolgen. Also lehnte er das Angebot ab. Aber wie konnte er im Alter von siebzig Jahren Wagenlenker werden? Er nahm allen Mut zusammen und ging zum örtlichen Droschkenplatz.
„Rabbi“, fragte man ihn, „wohin wollt Ihr fahren?“
„Ich bin nicht gekommen, um gefahren zu werden. Ich möchte das Fahren lernen“, antwortete er leise. Die Kutscher trauten ihren Ohren nicht. An diesem Abend kam Reb Josef schmutzig und mit blauen Flecken nach Hause, wo er seine Frau in Tränen vorfand. Sie hatte von seinem Plan gehört.
Reb Josef erklärte ihr, was der Rebbe gesagt hatte. Sie erwiderte: „Wenn der Rebbe es dir geraten hat, darfst du nicht zögern. Ich werde morgen meinen Schmuck verkaufen, damit du einen Wagen kaufen kannst.“
Ein Jahr verging, und Reb Josef hatte sich an sein neues Leben gewöhnt. Eines Abends hielt er vor einer jüdischen Herberge. Der Wirt stellte ihn Solomon Gamizki vor, einem Freund und Berater des Grafen Batschaikow. Gamizki wollte mit Reb Josef weiterfahren. „Morgen früh, so G-tt will, werden wir aufbrechen“, sagte Reb Josef. „Um welche Zeit?“, fragte sein Kunde. „Nach dem Gebet“, antwortete Reb Josef. „Für mich spielt es keine Rolle, ob du betest oder nicht“, erklärte Gamizki. „Ich möchte nur wissen, wann ich aufstehen, mich waschen und essen soll.“
„... und beten“, ergänzte Reb Josef.
„Das überlasse ich dir“, meinte Gamizki.
Als Gamizki erfuhr, dass Reb Josef nicht vor 10 Uhr fahren würde, bestellte er eine andere Kutsche. Dann ging er schlafen. Kurz nach Mitternacht wachte er verstört auf. Jemand weinte. Er öffnete die Tür und sah Reb Josef weinend auf dem Boden sitzen und bei Kerzenlicht lesen. Er sprach die Mitternachtsgebete.
Das machte tiefen Eindruck auf Gamizki, denn es erinnerte ihn an seine Jugend, seinen Vater, seinen Lehrer und die Frau und die Kinder, die er verlassen hatte, als er ungläubig geworden war. Seine Vergangenheit wurde vor seinen Augen lebendig.
Gamizki hörte Reb Josef aufmerksam zu, und als der Morgen nahte, hatte auch er Tränen in den Augen. Um fünf Uhr kam der Wirt und teilte ihm mit, die Kutsche sei bereit. Aber Gamizki beschloss, mit Reb Josef zu fahren. Stunden vergingen, und Reb Josef betete immer noch. Gamitzki borgte sich vom Wirt Tallit und Tefillin und betete ebenfalls. Tiefe Reue machte ihn krank, und er schwebte tagelang zwischen Leben und Tod. Der Graf schickte seinen Leibarzt, doch dieser gab die Hoffnung auf. Reb Josef blieb an Gamizkis Bett und unterstützte seinen Entschluss, zu seiner Familie und zum Judentum zurückzukehren. Eines Tages war Gamizki stark genug, um die Herberge zu verlassen. Auch Reb Josef ging. Er wollte den DowBer, besuchen, den Rebbe. DowBer war der Sohn und Nachfolger des verstorbenen Schneur Salman. Also reiste Reb Josef mit anderen Chassidim nach Lubawitsch.
Dort traf er eines Tages zu seiner Überraschung Solomon Gamizki, der dem Grafen gekündigt hatte und nach Lubawitsch gereist war, um zu lernen und dem Rebbe nahe zu sein.
Der Rebbe ließ Reb Josef rufen und machte ihm eine überraschende Mitteilung: „Ich ernenne dich zum Rabbiner der Synagoge in der Marktstraße. Du brauchst nicht mehr Kutscher zu sein. Mein Vater erschien mir heute Nacht und sagte, dass du deinen Auftrag erfüllt hast!“
ב"ה
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