Mosche träumte wieder. Er stand neben seinem Vater und seinem Bruder an der östlichen Mauer der Synagoge. Das war ein Ehrenplatz, denn Mosches Vater war der Oberrabbiner von Cordova, so wie sein Großvater und Urgroßvater. Aber Mosche betete nicht. Seine Blicke schweiften herum. Nach einem heftigen Klaps auf die Schulter schaute er schuldbewusst hoch. Sein Vater sah ihn streng, enttäuscht und traurig an. Mosche wusste warum: Weil er, der älteste Sohn, nicht die Tora studieren konnte.
Jeden Tag opferte der Vater kostbare Stunden, um mit ihm zu lernen. Doch am Ende des Unterrichts seufzte er und schüttelte den Kopf. So auch gestern. Er hatte Mosche sogar weggeschickt. Seine Augen brannten vor ungeweinten Tränen, und er ging in die Küche, wo Batschewa, die Haushälterin, Kuchen in heißem Öl backte.
„Ist es heute nicht so gut gelaufen?“, fragte sie sanft.
„Nun, nicht jeder ist zum Gelehrten bestimmt. Vielleicht schlägst du mehr nach deiner mütterlichen Seite.“
„Du meinst nach dem Vater meiner Mutter, dem Fleischer?“, fragte Mosche.
„Ja, aber das ist kein Grund, sich zu schämen. Dein Großvater war ein gütiger, ehrlicher und frommer Mann und sehr großzügig. Kein Wunder, dass G-tt ihm einen so ehrwürdigen Schwiegersohn wie deinen Vater schenkte.“
Die Gemeinde erhob sich für das stille Gebet. Rasch drehte Mosche die Seiten um. Hatte sein Vater ihn wieder beim Tagträumen ertappt? Er beugte den Kopf und betete. Schließlich kam er zu den Worten „Gewähre uns Weisheit, Einsicht und Wissen“.
Die Worte schienen ihn anzuspringen. Vielleicht würde G-tt ihm Weisheit und Einsicht gewähren, damit er jedes Wort im Gedächtnis bewahren konnte. Dann würde sein Vater stolz auf ihn sein. Mosche beschloss, es zu versuchen.
Während des Unterrichts an diesem Morgen konzentrierte er sich auf die Worte seines Vaters: „Und G-tt sprach: Es werde Licht, und es ward Licht.“ Licht. Durchs offene Fenster sah Mosche seine vertraute Welt. Der Brunnen glänzte in der Sonne; Palmen und Myrten überragten die Veranda. „Mosche!“ Die Stimme seines Vaters klang verärgert.
„Wenn du schon nichts verstehst, könntest du wenigstens die heiligen Buchstaben betrachten! Weißt du, worauf ich hinauswill?“
Mosche schüttelte betrübt den Kopf. „Nein.“
„Du versuchst es nicht! Genug davon – geh mir aus den Augen!“ Einen Augenblick lang konnte Mosche sich nicht bewegen. Die Worte des Vaters drangen wie Pfeile in sein Herz. Dann lief er weg, bis zum Stadtrand. Dort warf er sich ins kalte, klare Wasser des Flusses und schwamm mit kräftigen Zügen in die sanften Wellen hinein. Danach ließ er sich erschöpft ans Ufer fallen und schlief ein.
Als er erwachte, war es dunkel. Wohin sollte er gehen? Sein Vater hatte ihn weggejagt. Also ging Mosche zur Synagoge. In der schattigen Tiefe des Schreines funkelten die Tora-Rollen in ihren Hüllen aus Silber.
Plötzlich löste sich der kalte, harte Knoten in seiner Brust, und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Bitte, G-tt“, flehte er, „gib mir Weisheit! Öffne meinen Geist, damit ich deine Heilige Tora verstehe und mein Vater stolz auf mich sein kann. Bitte, lehre mich deine Tora!“ Er küsste die funkelnden Rollen der Reihe nach und schloss dann sorgfältig die Türen des Schreins.
Ein Gefühl des Friedens überkam ihn. Er sprach die Schma Jisrael, rollte sich auf einer Bank zusammen und schlief ein.
Die Morgendämmerung drang durch die Fenster der Synagoge. Hatte er wirklich die ganze Nacht hier geschlafen? Mosche murmelte das Mode Ani und dankte G–tt für die Rückkehr seiner Seele.
Jetzt wusste er, was er tun musste. Er wollte zur Jeschiwa nach Alisena reisen und die Tora beim Lehrer seines Vaters studieren: beim großen Rabbi Josef Ibn Migasch. Er wollte so lange lernen, bis er nach Hause zurückkehren und seinen Vater stolz machen konnte.
Mosche wusch sich die Hände, sprach innig die Morgengebete und eilte zum Marktplatz. Der große Platz wimmelte von Bauern, die ihre Wagen entluden. „Könnt ihr mir sagen, wie ich nach Alisena komme?“, fragte Mosche einen von ihnen.
Der Mann lächelte. „Genau dorthin fahre ich, mein Sohn. Du gehst bestimmt in die Jeschiwa, du kleiner Gelehrter. Steig ein!“
Die Sonne ging unter, als sie die Stadt erreichten. In der Jeschiwa lernten zahlreiche Männer und Knaben. „Was willst du, Kleiner?“, fragte ein großer junger Mann und lächelte auf Mosche herab.
„Ich will bei Rabbi Josef Ibn Migasch die Tora studieren“, stammelte Mosche.
„Dann komm nach deiner Bar Mizwa wieder. Deine Mutter sucht bestimmt nach dir.“
Plötzlich sagte eine gütige Stimme: „Bring den Jungen zu mir. Wie heißt du, mein Sohn?“
„Ich bin Mosche, der Sohn von Rabbi Maimon aus Cordova.“
„Ah, mein Schüler aus Cordova! Hat dein Vater dich geschickt, damit du hier studierst?“ Jetzt musste Mosche mit der Wahrheit herausrücken.
Als er fertig war, spürte er die Lippen des Zadik auf seiner Stirn. „G-tt segne dich, mein Sohn!“ Mosche spürte, wie ein großes Gewicht von ihm fiel. Etwas Tiefes und Gutes in seinem Inneren öffnete sich. Jahre später pflegte er zu sagen, dass sich ihm in diesem Augenblick die Quellen der Tora-Weisheit offenbart hätten.
ב"ה
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