Am Anfang der dieswöchigen Sidra Ki Tawo gibt die Tora den Wortlaut der Erklärung, die im Tempel beim Darbringen der Erstlinge des Bodenertrages auszusprechen war (Deut. 26, 5-10): "Ein Aramäer brachte Unheil meinem Vater, und dieser zog hinunter nach Ägypten ... G-tt führte uns aus Ägypten heraus, mit starker Hand ... und brachte uns zu diesem Platze und gab uns dieses Land, ein Land, das von Milch und Honig fließt. Und nun, siehe, ich habe hier das Erste der Frucht des Bodens gebracht, den Du mir, Ewiger, gegeben hast."
Raschi (z. St.) und andere Erklärer beziehen den Ausdruck "Ein Aramäer brachte Unheil" auf Laban, den Aramäer, und dessen Absicht, Jakob und seine Nachkommenschaft, also die gesamte jüdische Zukunft, zu zerstören (s. Genesis 31, 23 ff. und Kommentare). Somit stand also dieses Darbringen der Erstlinge des Bodens in unmittelbarem geistigem Zusammenhange mit der dankbaren Anerkennung von zwei definitiven G-ttlichen Rettungsaktionen, durch die das ganze jüdische Volk vor dem Untergang bewahrt wurde, nämlich: einmal die Errettung vor Labans Vernichtungsplänen, und zum zweiten die Befreiung aus Ägypten – gleichzeitig hinweisend auf G-ttes weitere Güte, die darin bestand, das jüdische Volk in ein "Land von Milch und Honig" zu bringen.
Die Frage ergibt sich sofort, warum von den vielen Wundem, die Israel zuteil geworden sind, gerade diese zwei bei dieser Erstlings-Zeremonie Erwähnung finden mussten. Es gab doch zahlreiche andere Errettungen – zum Beispiel die Spaltung des Schilfmeeres, die Schlacht gegen Amalek, das Manna oder das Wunder der Wasserquelle in der Wüste. Auch vorher waren Jakob und seine Familie bei einem anderen Vorkommnis ebenfalls geschützt worden, und zwar vor Esau und dessen (möglichen) ruchlosen Absichten (s. Genesis, Kap. 32 und 33). Warum werden keine dieser Wunder hier aufgezählt?
Wir müssen zwangsläufig die Schlussfolgerung ziehen, dass es eben nur diese beiden spezifischen Wunder – die Errettung vor Laban und diejenige aus der Hand der Ägypter – waren, die in einem sehr wichtigen Zusammenhang mit dem Besitz des Heiligen Landes, der Bearbeitung seines Bodens und dem Darbringen seiner ersten Früchte standen. Worin bestand diese besondere Erheblichkeit?
Das Darbringen dieser Erstlinge wurde erst zu einer verbindlichen Mizwa, nachdem die Israeliten das Heilige Land eingenommen, unter sich verteilt und besiedelt hatten (Talmud, Kidduschin 37b; und Raschi zu Deut. 26, 1). Daher müssen wir diese Mizwa dahingehend verstehen, dass hiermit nicht bloß ein Dank ausgesprochen werden sollte für G-ttes Gabe des Landes allein, sondern noch weitergehend, nämlich dafür, dass es den Israeliten gewährt war, es als ihre dauernde Heimat zu besiedeln. Erst dann konnten sie sich seiner wirklich erfreuen, und erst dann brachten sie die Erstlinge seiner Früchte dar. Genau dieser besondere Gesichtspunkt sollte in der Erklärung jedes Landbesitzers seinen Ausdruck finden, als er die Erstlinge darbrachte. Die beiden Beispiele – Laban und Ägypten – waren die einzigen, die für diesen Aspekt von Belang waren, das heißt: auf die dieser Anwendung finden konnte.
Bei Laban hatte Jakob sich niedergelassen; und in Ägypten hatten die Israeliten sich niedergelassen. Aus diesen beiden Niederlassungen erstand dem jüdischen Volk eine ganz wesentliche Gefahr, wie ja schon der Wortlaut der Erklärung als solcher anzeigt: "Ein Aramäer brachte Unheil meinem Vater, und dieser zog hinunter nach Ägypten." Die beiden Ereignisse, die chronologisch nicht gleich aufeinander folgten, werden hier dennoch unmittelbar nebeneinander gestellt, so als gehörten sie absolut zusammen! Das muss heißen; dass ihre "Botschaft" und ihr "Sinn" die gleichen sind. Die drohende Gefahr lag eben in dieser Permanenz des Aufenthaltes begründet; und erst der permanente Aufenthalt im Heiligen Lande und dessen Besiedlung gaben jene Sicherheit, für welche der Grundbesitzer sich nunmehr dankbar zeigte.
Esaus Bedrohung wie auch die verschiedenen anderen Wunder, die sich während der Wüstenwanderung ergaben, waren – im Gegensatz dazu – jeweils zu Zeitpunkten erfolgt, als das Volk (bzw. Jakob) unterwegs und auf der Wanderung war, in einem Zustand nomadischer Existenz. Deshalb geboren sie, so groß sie sind, nicht zu dieser spezifischen Zeremonie der Erstlinge des Landes.
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