Zu Beginn der dieswöchigen Sidra Ki Tawo spricht die Tora von den Bikurim, den ersten reifen Früchten, die alljährlich und individuell in das Heiligtum gebracht werden mussten, als Ausdruck des Dankes an G-tt für das Geschenk des Landes Israel (Deut 26, 1 ff): "Und es soll sein, wenn du in das Land kommst, welches der Ewige, dein G-tt, dir als Erbe gibt, und du hast es in Besitz genommen und dich darin niedergelassen: Dann sollst du von den ersten aller Früchte des Bodens nehmen ... und sie in einen Korb legen; und du sollst zu dem Platze gehen, den der Ewige, dein G-tt, erwählen wird, Seinem Namen dort Stätte zu geben ..."

Kommentatoren zu diesen Versen legen Wert auf eine sehr spezifische Feststellung, und zwar diese: Solange das jüdische Volk noch nicht das ganze Land Besitz genommen hatte, war der einzelne, selbst wenn er schon seinen Anteil am Lande erhalten hatte, nicht dazu verpflichtet dieses Opfer der Bikurim darzubringen (vgl. Talmud, Kidduschin 37b).

Diese Bemerkung bedarf allerdings einer Erläuterung, wie folgt: Das Darbringen der Bikurim sollte doch der großen Dankbarkeit Ausdruck verleihen – Dank an G-tt dafür, dass man ins Land kommen und seine Erträge genießen durfte (s. Raschi zu Deut 26, 3). War es daher richtig, dass ein Jude, der bereits seinen Besitzanteil im Lande übernommen und sich der Erträge erfreut hatte, bis zum Ende der 14 Jahre der Gesamteroberung und der Verteilung an alle Stämme (Raschi zu Numeri 32, 24 und Deut. 12, 8) warten sollte, bis er die Bikurim darbrachte? War das wirkliche Dankbarkeit? Weshalb sollte es von den betreffenden Israeliten nicht zu erwarten sein, dass wenigstens sie G-tt dafür dankten, dass Er ihnen bereits Gutes angetan hatte?

Hier aber ist es gerade, wo nun die Tora uns die hohe Bedeutung von Ahawat Jisrael (das ist: gegenseitige Liebe) lehrt: Das Darbringen der Erstlinge der Früchte sollte eine vollständige und vollkommene Freude bekunden, wie es sich aus verschiedenen Vorschriften über die Bikurim klar entnehmen lässt. Zum Beispiel sollte es sich nur um diejenigen Früchte handeln, durch die das Land Israel ausgezeichnet ist; sie durften nur einmal im Jahre dargebracht werden – weil etwas, das mehrfach im Verlauf eines Jahres geschieht, irgendwie doch etwas von seinem Reize verliert (vgl. Raschi zu Deut 26, 2-3).

All unsere jüdischen Menschen aber sind miteinander verbunden; und solange daher auch nur ein einziger Jude seinen Erbteil im Lande Israel noch nicht erhalten hatte – und sei sein persönlicher Rang auch noch so bescheiden und "unwichtig" gewesen –, so lange fehlte etwas an der Freude und an dem Genuss für die Gesamtheit seiner Brüder.

Denn ganz Israel ist eine Einheit. Wenn man sich in den anderen hineinfühlen kann und so mitfühlt, woran es ihm fehlt, dann ist dies gleich einem Zustande, in dem man diese Leere in sich selbst fühlt. Nachdem somit die Freude derjenigen, die schon ihren Anteil erhalten hatten, unvollständig war (weil bei ihren Brüdern noch Mangel herrschte), konnten sie die Bikurim nicht darbringen!

Die Vorlesung dieser Sidra Ki Tawo in der Synagoge fällt immer auf ein Datum, das nahe dem "Chai Elul" (dem 18. Elul) liegt, – dem Geburtstag (im Jahre 1698) des Baal Schem Tov, des Begründers des Chassidismus, und auch (1745) von R. Schneur Salman von Liadi, des Begründers des Lubabawitsch-Chassidismus. Für diese beiden großen Führer war Ahawat Jisrael stets der Prüfstein ihrer Lehren und beispielgebend in ihrem persönlichen Leben. R. Dov Baer von Meseritsch, der "Meseritscher Maggid", pflege zu sagen: "Wenn wir nur die Torarolle mit derselben Zärtlichkeit küssen könnten, mit der mein Meister, der Baal Schem Tov, die kleinen Kinder umarmte, die er ins Cheder (die Schule) brachte!" Und die Anhänger von R. Schneur Salman hatten die Losung: "Das Stück Brot, das ich habe, ist deines ebenso wie meines", wobei sie das Wort "deines" voranstellten: "Deines ebenso wie meines".