Am Ende der dieswöchigen Sidra Ki Teze (Deut. 25, 13-16) schreibt die Tora uns genaue Maße und Gewichte vor. Unmittelbar auf diese Verse folgt das Gebot (ibid, 17-19), des hinterlistigen Angriffes zu gedenken, den Amalek auf die Israeliten kurz nach ihrem Auszug aus Ägypten gemacht hat. In seiner Erklärung der Nebeneinanderstellung dieser beiden Vorschriften, die doch, beim ersten Hinblick, scheinbar nicht zusammengehören, gibt der große Tora-Erklärer Raschi dem jüdischen Volke einen guten Rat (Raschi zu Vers 17): "Hast du Maße und Gewicht gefälscht, dann fürchte dich vor (G-ttlicher Strafe in der Form von) feindlicher Herausforderung, wie es heißt (Sprüche Salomons 11, 1): 'Betrügerische Waagen sind G-tt ein Greuel'."

Nun fällt es zuerst einmal schwer, den Grund für eine derart harte Strafe für falsche Gewichte zu begreifen. Diese Missetat ist doch eigentlich eine Abart von Diebstahl, und dieser wird an sich leichter bestraft.

Dazu ist zu sagen, dass zusätzlich zu seiner buchstäblichen Bedeutung der Ausdruck "falsche Maße und Gewichte" noch in einem tieferen Sinne verstanden werden kann. "Falsche Maße" kann auch auf die Doppelnorm hinweisen, die manche als Maßstab an ihre Religion anlegen.

Wir alle geben zu, dass es eine bewundernswerte Charaktereigenschaft ist, wenn man mit seinem Lose zufrieden ist. Schon die Mischna sagt ("Sprüche der Väter" 4, 1): "Wer ist reich? – Wer zufrieden ist mit dem, was er hat." Daher – so möchten wir urteilen – sollten wir mit dem zufrieden sein, was wir in unserem religiösen Leben erzielt haben. Wenn wir dreimal im Jahre zur Synagoge gehen – das genügt schon! Wenn unsere Kinder nur so viel Tora lernen, wie als ein Minimum für die Bar Mizwa verlangt wird – gut genug! Sollte eine jüdische Schule ihre Einrichtungen weiter ausbauen wollen, geraten wir schon außer Fassung, und ein alter Mann mag sagen: "Was heißt denn das? Daheim, als ich noch ein Kind war und zur Schule ging, da war dies eine Bretterbude; und sie war doch gut genug für uns!"

In materiellen Dingen dagegen, wo immer diese uns persönlich angehend handeln wir genau umgekehrt. Unnachsichtig treiben wir uns bis zum Äußersten an. Wir arbeiten acht Stunden pro Tag, oder zehn, zwölf, gar fünfzehn Stunden; und was immer wir verdienen, befriedigt uns noch nicht. Wie hoch wir auch immer unseren Lebensstandard und unsere gesellschaftliche Stellung treiben – es ist noch nicht genug.

Es ist dieser "falsche Maßstab", diese hässliche Doppelnorm, die G-tt erzürnt. Die Mischna bezieht sich ausschließlich auf materielle Dinge, wenn sie sagt: "Wer ist reich? – Wer zufrieden ist mit dem, was er hat." In materieller Hinsicht sollten wir uns, in der Tat, mit einem Minimum zufrieden geben. Aber auf der Ebene von Religion und religiöser Erziehung dürfen wir niemals den Standort beziehen: "Jetzt reicht es schon aus, das Ergebnis ist hervorragend."

Nicht nur im Geschäftsleben muss die Buchführung in Ordnung sein, auch für das geistige Leben wird eine gute "Buchführung" erwartet. Jeden Tag, bevor man das Schma Jisrael-Gebet sagt, sollte man eine "Bestandsaufnahme" der Erfolge und der Versäumnisse des Tages machen. Vor jedem Schabbat sollten die Soll- und Haben-Seiten für die vergangene Woche gewissenhaft addiert werden.

Und all dies sind noch einzelne Konto-Eintragungen. Im (augenblicklichen) Monat Elul aber muss große Inventur gemacht werden, man muss die Konten abschließen, um die Bilanz für das ganze Jahr zu ziehen: Wie viel haben wir von G-tt "geliehen", und wie viel müssen wir daher im kommenden Jahre zurückzahlen?