Diese Woche finden wir in unserer Toralesung das Gebot, einen Zaun um das Dach eines Hauses zu machen. Gemeint sind damit natürlich nicht die spitzen alpinen Dächer, die wir hierzulande gewohnt sind, sondern es geht um die Möglichkeit, dass jemand auf seinem oder ihrem Haus ein Flachdach hat, auf das man hinausgehen kann. - Und da ist es notwendig, gleich beim Bau eines neuen Hauses einen Zaun zu errichten, damit niemand in Gefahr kommt hinunterzufallen. (Im übertragenen Sinn gilt dieses Gebot nicht nur für Hausdächer, sondern für jegliche Art von Gefahrenquelle. Immer dort, wo jemand verletzt werden könnte, sind entsprechende Sicherheitsmaßnahmen zu treffen.)
„Damit der Fallende nicht fällt”
Nun ist dieses Gebot - einen Zaun zu machen, damit niemand fällt - in einer auffälligen Art formuliert. Es heißt nämlich, der Zaun sei zu errichten, damit „der Fallende nicht fällt”. Einfacher wäre doch, zu sagen: „damit niemand fällt”. Wenn ohnehin schon dortsteht, dass er fällt, wozu nennt ihn die Tora noch extra „der Fallende”? Als ob das nicht klar wäre!
Es hat so kommen müssen ...
Unsere Gelehrten gaben darauf die Antwort, dass uns das etwas Besonderes lehrt: Dem Menschen, der da fällt, war es bereits von G-tt bestimmt, zu fallen. Daher ist er im Text von vornherein als „der Fallende” bezeichnet. Es hat so kommen müssen. Doch dürfen wir daraus keinesfalls den Schluss ziehen, dass wir uns unsere Sicherheitsvorkehrungen ersparen können, sozusagen, weil es ohnehin G-ttes Wille wäre wenn etwas passiert. Das kann für uns ganz und gar keine Ausrede sein: Wir sind verpflichtet, darauf zu achten, dass unser Dach einen Zaun hat - wir wollen schließlich nicht die Unglücksboten werden, die zu einem Unfall beigetragen haben. Das Judentum nämlich steht auf zwei Beinen - g-ttlicher Voraussehung und freier Wahl des Menschen -, die auf G-ttes wunderbaren Wegen dennoch kein Widerspruch sind.
Der Lubawitscher Rebbe hat erklärt, dass dieses Gebot auch einen spirituellen Aspekt hat. Das Dach - der höchste Teil des Hauses - kann als Symbol für Hochmut und Stolz verstanden werden. Stolz gilt im allgemeinen als sehr schlechte Eigenschaft, jedoch heißt es auch im Talmud, dass Gelehrte schon einen kleinen Teil Stolz in sich tragen sollen. Denn wenn sie das nicht täten wäre das eine Herabwürdigung der Lehre, die sie vertreten.
Nun sehen wir an unserem Gebot, „einen Zaun um das Dach zu machen”, dass auch jenes kleine Quentchen von erlaubtem Stolz sorgfältig eingegrenzt gehört. Ohne diese Schranken könnte es Unheil anrichten. Wenn wir uns nicht bemühen, unseren Stolz einzuschränken, kann es sein, dass dadurch jemand zu Fall kommt.
Hausbau auf geistiger Ebene
Auch das Bauen eines neuen Hauses, von dem die Tora hier spricht, kann auf geistiger Ebene verstanden werden. Wenn jemand einen Freund, der nicht viel über das Judentum weiß, näher zur jüdischen Lehre und zum Ausüben der Gebote bringt, so ist das gewissermaßen wie das Bauen eines neuen Hauses. Und hier ist es ganz wichtig, den Stolz, den der, der schon mehr gelernt hat, vielleicht fühlen könnte, schnell in enge Schranken zu weisen - andernfalls könnte ausgerechnet der, dem er eigentlich helfen will, abgeschreckt werden und zu Fall kommen.
Und da hilft uns keine Ausrede, dass es vielleicht so oder so dazu gekommen wäre, dass er ja von vornherein „der Fallende” war. Die Tora lehrt uns, dass wir uns um den notwendigen „Zaun” in jedem Fall selbst bemühen müssen.
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