II. Jemand hat mich gefragt: Das Gebot, eine Brüstung (ein schützendes Geländer) auf dem Dach1 zu errichten, ist als Vorsichtsmaßnahme gegen die Gefahr verordnet, denn es heißt: „Lass keine Blutschuld kommen auf dein Haus, wenn jemand davon herabfiele.“2 Der Rambam bestimmt, dass man keinen Segen für eine Mizwa rezitiert, die als Vorsichtsmaßnahme gegen die Gefahr angeordnet ist;3 aber er bestimmt auch im selben Kapitel,4 dass man beim Bau einer Brüstung den Segen rezitieren soll: „Der uns durch Seine Gebote geheiligt hat und uns befohlen hat, eine Brüstung zu machen!“
Man könnte die scheinbare Schwierigkeit lösen, indem man einfach feststellt, dass der Aspekt „Lass keine Blutschuld kommen auf dein Haus“ auch auf andere Weise erreicht werden könnte, ohne eine Brüstung. Eine Brüstung ist zum Beispiel nur dann erforderlich, wenn das Dach höher als zehn Tefachim (Handbreiten) vom Boden entfernt ist;5 man hat also die Möglichkeit, das Dach abzusenken oder das Bodenniveau anzuheben. Alternativ könnte man das Dach auch schräg anbringen.6 Es gibt also Möglichkeiten, das „Lass keine Blutschuld kommen auf dein Haus“ zu gewährleisten, ohne die Mizwa der Errichtung einer Brüstung einhalten zu müssen. Man sollte dann einen Segensspruch rezitieren, wenn man diese Brüstung baut, weil sie etwas anderes beinhaltet als das „Lass keine Blutschuld kommen auf dein Haus.“
Diese Lösung ist jedoch nicht zufriedenstellend. Schließlich ist der einzige Grund für den Bau einer Brüstung, dass man sich vor einer Gefahr schützen will. Damit sind wir wieder bei dem ursprünglichen Problem, dass man für eine solche Sache keinen Segensspruch spricht.
Tatsächlich aber sind „Mache eine Brüstung“ und „Lass keine Blutschuld kommen auf dein Haus“ zwei verschiedene Gebote, und das letztere ist kein Grund für das erstere.
Dies ist aus dem Folgenden klar ersichtlich. Der Rambam legt in seinen Grundsätzen für die Bestimmung der Mizwot7 die Regel fest, dass Gründe für Mizwot nicht einzelne Gebote der 613 Mizwot sind. Doch in seiner Liste der 613 Mizwot führt er den Bau eines Geländers als eines der 248 Gebote8 und die Aufforderung „Lass keine Blutschuld kommen auf dein Haus“ als eines der 365 Verbote auf.9 Daraus folgt, dass die Aufforderung „Lass keine Blutschuld kommen auf dein Haus“ kein Grund für das Gebot ist, ein Geländer zu bauen, sondern ein ganz eigenes Gebot.10
Die Quelle des Rambam ist Sifre, wo es heißt: „‚Mache eine Brüstung auf deinem Dach‘ ist ein Gebot, und ‚Lass keine Blutschuld kommen auf dein Haus‘ ist ein Verbot.“11
III. Dieser Grundsatz ist für die Awoda relevant.
Wenn ein Jude ein neues „Gebäude“ baut, reichen frühere Vorsichtsmaßnahmen, die ihm geholfen haben, alle Versuchungen zu überwinden, nicht aus. Aufgrund seiner Vergangenheit kann er sich „in seinem Herzen segnen und sagen: ‚Ich werde Frieden haben‘“12, und „Wenn die meisten Jahre eines Menschen ohne Sünde verstrichen sind, [wird er nicht mehr sündigen].“13 Daher muss er sich bewusst sein, dass er beim „Umzug in ein neues Gebäude“ einer neuen Awoda unterliegt und daher darauf achten muss, den neuen Versuchungen zu widerstehen, die mit seiner neuen Awoda auftreten können.
Wenn man die Grenzen des Bet haMidrasch verlässt, um in die Welt hinauszugehen, bedeutet dies eine neue Awoda, den Beginn neuer Situationen, mit denen man sich vorher nicht befasst hat. So ist es mit jedem, an jedem Tag: Das erste, was jeden Tag sein muss, ist die Awoda von Tefilla (Gebet), gefolgt vom Tora-Studium.14 Wenn man also den Bereich von Tefilla und den Bereich von Halacha verlässt, um in den Bereich der „39 Arbeiten der weltlichen Aktivitäten“15 einzutreten, muss man einen Schutzwall errichten, um sicherzustellen, dass die weltlichen Beschäftigungen so sind, wie es sich gehört, damit keine „Blutschuld auf dein Haus“ kommt und „niemand herunterfällt.“
Im physischen Bereich muss das Schutzgeländer höher sein als das Haus, sogar höher als das Dach. Dasselbe gilt für den spirituellen Bereich: Die „Brüstung“ muss von einer höheren Quelle stammen als man selbst und erfordert Hilfe von einem viel höheren Ort.
Daher ist es wichtig – ja, nicht nur wichtig, sondern obligatorisch –, einen Segen für eine Brüstung zu sprechen. Denn wie kann man das schützende Geländer bauen, wenn es aus einer höheren Quelle als dem eigenen Ort entnommen werden soll?
Im Zusammenhang mit der Erklärung unserer Weisen, dass Beracha (Segen) sprachlich verwandt ist mit „Hamawrich einen Weinstock (Weinreben durch in die Erde eingepflanzte Ableger vermehren).“16 [Der Text des Segens bedeutet also:] „Baruch Ata Hawaja (Gesegnet seist Du)“ – dies bezieht sich auf den G-ttlichen Aspekt, der die Welt transzendiert,17 der mittels „Elokenu“ (unser G-tt; der Aspekt von Gewura und Zimzum um unseretwillen)18 in „Melech haOlam“ (König des Universums) hineingezogen wird,19 und dies bewirkt „... Weziwanu“ (wörtl.: und der uns befohlen hat), ein Ausdruck für Zawta (Zusammenschluss) und Vereinigung,20 „La-asot Ma-ake“ (eine Brüstung zu machen). Diese Beracha ermöglicht es uns, eine Brüstung von mindestens zehn Handbreiten auf dem Dach der Welt von Beria zu errichten, die der Boden der Welt von Azilut ist, wie in den Schriften von Rabbi Jizchak Luria erläutert wird.21
IV. Genauer gesagt, bietet das oben Gesagte die folgende Richtlinie:
Der Rebbe, mein Schwiegervater, hat gelehrt, dass man an jedem Rosch haSchana einen gewissen Zuwachs an Hidur (verbessertem Ausüben) der Gebote, an Achtsamkeit in Bezug auf die Verbote und an gutem Benehmen vornehmen soll.22 Dies gilt selbst dann, wenn man sich schon vorher korrekt verhalten hat, denn, wie im Iggeret haKodesch23 gesagt wird, gibt es an jedem Rosch haSchana die Emanation einer ganz neuen Erleuchtung.
So ist es auch in unserem Kontext. Wenn man eine neue Art der Awoda beginnt, sei es, indem man die Grenzen des Bet haMidrasch verlässt und in die Welt hinausgeht, oder wenn man vom anfänglichen Gebet und Tora-Studium am Morgen zur Beschäftigung mit dem Alltäglichen übergeht, muss es einen Zuwachs zum früheren Status geben.
So heißt es in der Tora: „Wenn du ein neues Haus baust, mache eine Brüstung auf deinem Dach“: Es wird eine besondere Fähigkeit von oben verliehen, ein schützendes Geländer zu bauen, dessen Mindesthöhe zehn Handbreiten betragen soll,24 um die neue Erleuchtung in alle zehn Seelenkräfte hineinzuziehen – von den Fähigkeiten von Chochma, Bina und Da-at bis hin zu der des Handelns.25 Dies bewirkt von selbst, dass „keine Blutschuld [auf dein Haus] kommt“ und niemand „von ihm herunterfällt.“26 Außerdem wird es „wie die Schönheit des Menschen, der im Haus wohnt“, sein.27
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am 13. Tammus 5716)
Diskutieren Sie mit