Obwohl die dieswöchige Sidra Ekew – inhaltlich mancherlei Unterschiede gegen die vorwöchige – Waetchanan – aufweist, ist dennoch ein auffallendes Bindeglied vorhanden: Der erste Absatz des täglichen Schma-Gebetes ist der Sidra Waetchanan, der zweite der Sidra Ekew entnommen. Die beiden Texte gehören wohl zusammen, weil ihnen mehrere Gedanken gemeinsam sind; und doch weichen sie in andere Hinsicht voneinander ab. Zu den Unterschieden zwischen den beiden Absätzen des Schma gehören diese:
Erstens: Im ersten Absatz wird uns anbefohlen (und zwar jedem einzelnen), G-tt zu lieben "mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft". Demgegenüber werden wir im zweiten (und zwar als Gemeinschaft) zu dieser Liebe angehalten "mit eurem ganzen Herzen und mit eurer ganzen Seele"; hier ist "Kraft" nicht erwähnt.
Zweitens: Im ersten Absatz heißt es: "Du sollst sie deinen Kindern einschärfen und von ihnen sprechen ..." und darauf: "und du sollst sie als ein Zeichen auf deine Hand binden ...". Im zweiten Absatz ist die Reihenfolge umgekehrt: Erst heißt es "Ihr sollt sie binden", und danach: "Ihr sollt sie eure Kinder lehren". Also: im ersten Absatz folgen die weiteren Vorschriften auf das Torastudium, im zweiten aber gehen sie ihm voran.
Drittens: Der erste Absatz enthält nur Vorschriften. Der zweite jedoch nennt auch die dazu gehörenden Belohnungen ("damit sie eure Tage mehren") nebst den Strafen ("G-ttes Zorn wird gehen euch entbrennen").
Der hauptsächliche Unterschied allerdings zwischen den beiden Texten ist (s. Raschi zu Deut. 11, 13 und Sifri z. St.), dass der erste – mit allen Verben im Singular –sich an den individuellen Juden wendet, während der zweite – alle Verben im Plural – Israel in seiner Gesamtheit anspricht, und dies sowohl in Bezug auf das allgemeine Gebot der G-ttesliebe wie auch die spezifischen Gebote von Tefillin und Mesusot. Im zweiten Absatz drücken sie noch etwas Neues aus. Wie Raschi (zu Deut. 11, 18) es erklärt, ist die zusätzliche Bedeutung diese: "Auch wenn ihr im Exil seid, macht euch unterschiedlich durch (das Einhalten der) Gebote: Legt Tefillin, bringt Mesusot an, so dass diese euch nicht neu (ungewohnt) vorkommen, wenn ihr (ins Land) zurückkehrt."
Hinzu kommt ein Gradunterschied im genauen Wortlaut, mit dem die Verbreitung der Tora anbefohlen wird: "Du sollst sie einschärfen", wie es im ersten Absatz heißt, beinhaltet die Verpflichtung eines Lehrers seinen Schülern gegenüber. Der Wortlaut im zweiten Absatz dagegen: "Ihr sollt sie lehren" betrifft das Verhältnis zwischen Vater und Kindern (s. Raschi zu Deut. 11, 19, Sifri z. St., und vgl. Talmud, Kidduschin 29b).
All die Unterschiede lassen sich auf ein Grundprinzip zurückführen: "Thematisch behandelt Waetchanan die Offenbarung und Befreiung, die von "Oben" erwächst, durch G-ttes Gnadenwaltung. Die Sidra Ekew hingegen befasst sich mit der Lage des Menschen, mit seinem Zustand; undso ist dort die Offenbarung dadurch gewährleistet, dass er sie zu sich herabzieht, durch sein eigenes Tun. So fängt dieser Wochenabschnitt gleich in diesem Sinne an (Deut. 7, 12): "Und es wird sein, weil ihr auf diese Richtlinie hört". Schon durch die Sinnesorgane wird der Unterschied angezeigt: Hier ist vom Hören die Rede, während zu Beginn der vorigen Sidra Moses G-tt bittet, das gute Land "sehen" zu dürfen (Deut. 3, 25). "Sehen" beinhaltet die "Vision" des Übernatürlichen, wie es von G-tt ausstrahlt. Das "Hören" ist eine entfernte, weniger deutliche Wahrnehmung des Geistigen, indem der Mensch durch eigene Bemühungen erst danach streben muss. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass das Sehen jeweils eine Fähigkeit der Einzelperson ist, das Hören aber sich in allen zusammen manifestiert. Und damit können wir all die Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen in der Tat auf einen Nennen bringen: Der erste Absatz gehört zu Waetchanan, worin die Tora von der Offenbarung von "Oben" spricht, versinnbildlicht durch das "Sehen"; der zweite ist aus Ekew, worin die Tora sich mit der Offenbarung vom Inneren des Menschen her befasst, versinnbildlicht durch das "Hören". So denn wendet der erste Absatz sich an den Einzelnen, den "einen", denn er spricht über die Offenbarung von G-tt, dem "Einen". Der zweite Absatz, der sich auf den Menschen in der menschlichen Situation bezieht, spricht im Plural, auf die Gemeinschaft gemünzt, für die Menschen in der Pluralität ihrer Fähigkeiten, in ihrer Mannigfaltigkeit gemeint.
Daraus erklären sich alsbald die anderen angeführten Abweichungen, wie man jetzt selbst überprüfen kann: Die Umkehrung der Reihenfolge, die Nichterwähnung von "Kraft" im zweiten, mehr erdgebundenen Absatz.
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