Der dieswöchige Sidra (Deut. 11, 13 ff.) ist der zweite Absatz unseres täglichen "Schma"-Gebetes entnommen, worin (unter anderem) betont wird, wie wichtig es ist, dass der lebensnotwendige Regen zu seiner Zeit kommt. Was ist Regen, und wie entsteht er?
Die Wissenschaft lehrt nichts anderes, als in der Tora steht (Genesis 2, 6): "Ein Dunst stieg von der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Bodens." Mit anderen Worten: Das Wasser entsteht erst einmal am Boden; durch die Verdunstung steigt es in die Atmosphäre; dort bildet sich davon Wolken, aus denen sich dann der Regen ergießt, womit die unten aus dem Boden wachsende Vegetation getränkt wird.
G-tt hat die Welt in einer geordneten und logischen Weise geschaffen. Wo jedoch ist die Logik bei diesem Kreislauf? Warum muss das Wasser – das anfänglich sich sowieso unten befindet – durch die Sonnenhitze zum Verdunsten kommen, damit es zu atmosphärischem Dampf wird, um dann zur Erde zurückzukehren, wenn die Gebete erhört werden? G-tt hätte es doch – so könnte man meinen – genauso gut so einrichten können, dass die Feuchtigkeit gleich schon auf der Erde bleibt, um dort die irdische Pflanzenwelt zu nähren.
Die Antwort hierauf ist diese: G-tt wollte, dass wir zu Ihm immer um Regen beten. Wir müssen uns stets bewusst bleiben, dass alles von Ihm kommt; und um diese Erkenntnis zu stärken, setzt Er den Kreislauf des Wassers fest – womit scheinbar das Grundgesetz durchbrochen wird, dass Wasser von oben nach unten fließt. Erst dann kehrt das Wasser zur Erde zurück.
Der Talmud (Taanit 23a) erzählt von einer Dürre, die vor langer Zeit im Heiligen Lande auftrat. Drei Jahre lang fiel kein Regen! Als auch die Regenperiode des dritten Jahres fast vorbei war, und es nicht geregnet hatte, schickte man Abgesandte zu Choni Hamaggel, einem hervorragenden Gelehrten und Mystiker, mit dem Ersuchen, er möge um Regen beten.
Wiederholt betete der große Mann, aber erfolglos. Schließlich zeichnete er einen Kreis in den Staub des Bodes, stellte sich in die Mitte dieses Kreises und forderte G-tt heraus: Er werde diesen Platz nicht verlassen, bis seine Bitte gewährt würde. Da kam der Regen – und was für ein Regen! Erst fiel er in Tröpfchen, dann folgten große Tropfen, und dann waren sie schon litergroß! Choni Hamaggel aber blieb stehen; denn er wollte zwar nicht die Dürre, aber ebenso wenig wollte er eine Flut. Erst daraufhin regnete es normal.
Das talmudische Recht kennt ein wichtiges Prinzip, es heißt "Chasaka". Man kann es, ungefähr und annähernd, mit "Präsumption (des Besitzrechtes)" übersetzen. Wenn man eine Parzelle Land oder andere Immobilien drei aufeinanderfolgende Jahre im Besitz hat, dann gilt "Chasaka", man hat ein ständiges Besitzrecht erworben. Die Dürre zu Choni Hamaggels Zeit dauerte drei Jahre; folglich hätte man annehmen können, die Dürre sei zu einer "Chasaka" geworden, also zu etwas, das auf immer so bleibt. Dennoch brach deswegen keine Panik aus, sondern die Menschen beteten weiter zu G-tt. Schließlich gehört G-tt ja alles, und Er kann alles gewähren. So sahen sie in den drei Jahren der Trockenheit keine "Chasaka", sondern flehten weiter um Regen; G-tt erhörte sie, und der Regen kam und verhalf zu neuer Ernte.
Hierin liegt für jeden von uns eine Lehre: Was immer der Grad unserer Religiosität in den letzten drei Jahren gewesen ist, oder sogar in den letzten 33 Jahren, wie sehr wir auch immer geneigt sind, eine "Chasaka" für die "Dürre" unserer Verpflichtung zu Tora und Mizwot in Anspruch zu nehmen, was immer unsere Gewohnheiten und unsere Haltung viele, viele Jahre hindurch gewesen sind; es besteht kein Grund zur Panik. Wenn wir uns über die legalistischen Auslegungen eines "permanenten Besitzrechtes" hinwegsetzen und statt dessen G-tt um Gnade und Gunst anflehen, mit ehrlicher Absicht; wenn wir, wie Choni Hamaggel, darin nicht nachgeben, sondern dieses mächtige Ersuchen hartnäckig weiter vorbringen: dann wird der "Regen" wieder fallen, unsere geistigen "Pflanzen" werden genährt und die ganze Vegetation erneuert werden.
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