In der dieswöchentlichen Sidra, Ekew, werden wir nochmals angehalten, unsere Kinder die Tora zu lehren und sie zu studieren und zu diskutieren, "wenn du in deinem Hause sitzt, und wenn du unterwegs bist, und wenn du dich niederlegst, und wenn du aufstehst" (Deut. 11, 19).

"Hillel wird die Armen schuldig sprechen, Rabbi Elasar ben Charsum wird die Reichen schuldig, sprechen." So sagen die Weisen des Talmud (Joma 35b), und die Erklärung ist diese: Beim endgültigen Urteilsspruch, wenn die Seele vor dem himmlischen Gerichtshofe steht, ist eine der Fragen, die sie zu beantworten hat: "Warum hattest du nicht Tora gelernt?" Darauf könnte die Antwort lauten: "Ich war arm und zu sehr damit in Anspruch genommen, mein Leben zu fristen; dadurch hatte ich zum Torastudium keine Zeit." Diese Entschuldigung wird das Gericht nicht annehmen, denn wie arm er auch war, er war gewiss nicht ärmer als Hillel, der jeweils den halben Tag zu arbeiten pflegte, um damit einen kläglich halben Dinar zu verdienen. Die Hälfte davon pflegte er dem Türhüter vor der Halle der Tora-Hochschule , zu geben, damit dieser ihn hineinließ, um den Vorträgen der großen rabbinischen Gelehrten Schmaja und Avtalyon zuzuhören. Die andere Hälfte dieses dürftigen Betrages behielt Hillel für seine Familie und sich selbst zurück.

Der Talmud (a.a.O.) erzählt uns, dass Hillel einmal, an einem kalten Wintertage, keine Arbeit finden konnte; und da er somit nicht in der Lage war, das Eintrittsgeld für das Bet Hamidrasch zu zahlen, kletterte er auf das Dach und legte sich flach darauf, sein Ohr auf das Oberlicht gedrückt, um so der kostbaren Tora-Erklärung zuzuhören; dabei merkte er nicht, dass es heftig zu schneien begann. Am nächsten Morgen wies Schmaja den Avtalyon darauf hin, dass die Halle ungewöhnlich dunkel war. Als sie nach oben schauten, erspähten sie die Form eines menschlichen Körpers über dem Dachfenster. Sie eilten auf das Dach und fanden Hillel, der steif gefroren unter drei Ellen hohem Schnee lag. Es zeigt sich also, dass Hillel sich auch durch seine Armut nicht vom Lernen abhalten ließ.

Es ist auch möglich, dass die genau entgegengesetzte Entschuldigung vor dem himmlischen Gericht vorgebracht werden könnte: "Ich hatte viele Geschäfte zu erledigen. Meine Zeit war völlig mit diesen Geschäften ausgefüllt, und ich hatte keine Zeit, Tora zu lernen. Diese Antwort wird ebenfalls abgewiesen, denn wie reich auch immer der Angeklagte war, er war sicherlich nicht wohlhabender als Rabbi Elasar ben Charsum, der eintausend Städte und eintausend seefahrende Schiffe geerbt hatte und trotzdem von Stadt zu Stadt und von Land zu Land pilgerte, um die Tora zu studieren, mit nur einem Päckchen auf dem Rücken, das seinen bescheidenen Proviant enthielt. Sein großer Reichtum hielt Rabbi Elasar nicht vom Lernen ab.

Wenn wir kurz die Gründe für den Schuldspruch des Gerichtes in beiden Fällen untersuchen, ist folgendes klar: Hätten die Angeklagten wirklich die Zeit zum Torastudium gehabt und es dennoch verabsäumt, hätten Hillel und Rabbi Elasar es nicht nötig gehabt, Beweise für ihre jeweilige Schuld zu bringen; denn sie wären ohnehin schuldig gewesen. Wenn sie, andererseits wiederum, keine Zeit zum Lernen hatten, warum wurden sie trotzdem für schuldig befunden?

Die Antwort ist diese: Ein Jude sollte von einer zwingenden, brennenden Liebe für die Tora beseelt sein, denn sie ist G-ttes kostbares Geschenk an uns, Sein Volk. Zugegeben, dass es Zeiten geben kann, wo wir (wenn man die Vorschriften buchstäblich auffasst) vom Torastudium befreit sind; doch auch dann sollten wir uns angetrieben fühlen, ein paar Augenblicke dafür zu opfern. Die Anschuldigung durch den himmlischen Gerichtshof lautet daher gar nicht einmal so sehr: "Warum hast du nicht die Tora gelernt, so wie G-ttes Gesetz es dir vorschreibt?". Sie lautet vielmehr: "Wo war deine Liebe für die Tora, die Liebe, die dich zum Lernen gezwungen hätte, selbst dann, als du eigentlich davon befreit warst – so wie Hillel und Rabbi Elasar es gezeigt haben?".