An vielen Stellen ist Raschis Tora-Kommentar weit mehr als eine rein buchstäbliche Erläuterung der Verse. Sondern wir finden darin oft tiefgründige, allgemeingültige Wahrheiten, maßgeblich für unsere eigene Lebensführung. So denn müssen wir aus Raschis Erklärung der Pinchas-Episode dies entnehmen: Wenn man zuschaut, wie jemand eine religiöse Handlung ausübt, soll man Mensch über ihn nicht nörgeln, selbst wenn deutlich erkennbar wäre, dass er dabei Hintergedanken hat.

Sogar für diesen spezifischen Fall der Hintergedanken sieht der Talmud (Pessachim 50b) vor: "Man sollte immer mit Tora-Dingen beschäftigt sein, auch wenn diese nicht Selbstzweck wären; denn auch wenn man es zu einem anderen Zwecke tut, kommt man schließlich doch dazu, es um seiner selbst willen zu tun." Das heißt also, dass das von der Wahrheit geprägte Motiv am Ende das falsche Motiv verdrängen wird.

In der Tat kommt es dann dazu, dass das richtige Motiv "aus dem falschen" erwächst (der Talmud bedient sich hier des hebräischen Ausdruckes "mitoch"). Noch mehr: Wenn ein Jude zusieht, wie ein anderer etwas Richtiges aus einem unrichtigen Grunde tut, dann soll er ihm nicht davon abraten, sondern er soll ihm dazu verhelfen, das wahre Ziel zu erkennen, er soll ihn also schneller in einen Zustand versetzen, da er G-ttes Vorschriften um ihrer selbst willen ausübt.

Letzten Endes ist es uns Menschen kaum oder sogar nie möglich, über die Motivierung des anderen genau Bescheid zu wissen. In Pinchas' Falle hatten die Stämme gewichtige Gründe zum Verdacht. G-tt aber, der "ins Herz schaut" (1 Samuel 16, 7), wies auf ihren großen Irrtum hin.

Wer jenem Beispiel der Stämme folgt, könnte dabei dann noch einen weiteren schweren Fehler machen, und zwar den der Selbsttäuschung. Denn wenn man einen anderen an einer Tat hindert, die an sich eine gute Handlung ist, nur weil man Zweifel über dessen Motive hegt, dann könnten die eigenen Motive ebenso angezweifelt werden. Zum Beispiel könnte jemand so urteilen: Nachdem ich selbst stets bescheiden und zurückhaltend bin, ist mir Stolz und Überheblichkeit verhasst; und wenn ich daher sehe, wie einer die Tora mit offenkundiger Leidenschaft lernt, oder wie er Gebote im Übermaß – über die Anforderungen der Tora hinaus – einhält (also irgend etwas Ostentatives tut), so kann ich dies nicht stillschweigend zulassen. Dabei jedoch ist er es dann, der Wirklichkeit den Fehler macht, währen der von ihm kritisierte Mensch recht hat.

Es ist leicht möglich, dass eben diese Zurschaustellung von Zurückhaltung und Bescheidenheit ein Element von Überheblichkeit und Stolz enthält. Wenn man jemanden mit großer Leidenschaft lernen oder die Gebote überschwenglich ausführen sieht, dann sollte man eher so reagieren: Man sollte sich aufraffen, den gleichen Eifer zu zeigen (vgl. Talmud, Baba Batra 21a: "Der Gelehrten Eifersucht vermehrt das Wissen").

Wenn man aber, stattdessen, nur kritisiert, dann gibt man fast den Eindruck, man könnte es nicht ausstehen, das jemand anderes tugendhafter als man selbst ist. In den "Sprüchen der Väter" (1, 6) heißt es: "Beurteile alle Menschen nach der guten Seite." Wem man in seiner Haltung gegen einen Nebenmenschen gegen dieses Prinzip verstößt, wird man nicht von Frömmigkeit und Wahrheit geleitet.

So darf man selbst zu einer Zeit geistigen Niederganges einen Juden, der Eifer und Leidenschaft im Dienste G-ttes an den Tag legt – sogar wenn dieser Jude weder eine Führungspersönlichkeit noch überhaupt eine Person von Rang ist –, nicht daran hindern oder ihn entmutigen. Denn wie Pinchas trägt er doch zum wahren Frieden zwischen G-tt und Seinem Volke bei – und dieser Frieden ist das Gegenteil von Trennung und Verbannung. In der Tat ist er ein Vorbote des messianischen Zeitalters, in dem (nach Malachi 3, 24) Eintracht zwischen den Generationen und überhaupt ein dauernder Friede entstehen und herrschen wird.