Das "Pinchas-Ereignis", das im ersten Teil der dieswöchigen Sidra seinen Niederschlag findet war dieses:

Voller Verzweifelung und mit bitteren Tränen in den Augen – sie wussten nicht, was sie tun sollten – standen Moses, Aaron und die Ältesten da, als Simri, ein Fürst aus dem Stamme Simeon, in aller Öffentlichkeit G-tt herausforderte und Sein moralisches Gesetz übertrat. Unter ihnen war auch Pinchas, der Sohn Eleasars, ein Enkel Aarons. Pinchas sah, dass die Führer alle stillschwiegen, er aber zögerte nicht. Mit großem Mute wies er Moses auf das Gesetz hin, welches dieser scheinbar vergessen hatte – nämlich dass unter solchen Umständen jemand, der auf die Ehre G-ttes eifrig bedacht ("eifersüchtig") ist, den Missetäter hinrichten darf.

Moses’ Antwort lautete (Talmud, Sanhedrin 82a): "Wer den Brief diktiert, der soll ihn auch abliefern." Damit meinte er: "Du bist es, der sich an das Gesetz erinnert und auch uns daran erinnert hat. Du sollst derjenige sein, der den Urteilsspruch vollzieht." Und Pinchas tat genau dies, womit er das gewaltige Verdienst erwarb, dass G-ttes Zorn von Seinem Volke abgewendet wurde (s. Num. 25, 1-15).

Wie der Midrasch bemerkt (Bamidbar Rabba und Tanchuma), war Pinchas unter den Gemeindeführern nicht nur von niedrigem Rang, auch in Bezug auf seine Tora-Kenntnisse war er kein Großer. Die Lehrer-Schüler-Hierarchie war die folgende: Zuerst studierte Moses die Tora und lehrte sie Aaron, dann – in Aarons Dabeisein – dessen Söhne Eleasar und Ittamar; danach lehrte er sie die siebzig Ältesten, und erst am Ende das ganze übrige Volk (Talmud, Eruwin 54b). Ungleich seinem mehr bevorzugten Vater und Großvater lernte Pinchas die Tora nur zusammen mit dem ganzen Volke. Und doch: Als das Tora-Gesetz die Tat erforderte, da erging Pinchas sich nicht erst in langen Vernunftsüberlegungen. Er sagte nicht: "Es muss doch gute Gründe haben, dass Moses, Aaron und die Ältesten – die doch alle die Tora besser kennen als ich – stillschweigend zuschauen." Nein, so argumentierte er nicht. Höflich und ehrerbietig, und dennoch mutig, äußerte er sich zur Lage; er tat eine schicksalsschwere Tat – und damit rettete er ganz Israel.

Zu wissen heißt: zu tun. Wenn jemand eine Tora-Anweisung kennt, die auszuführen er in der Lage ist, dann soll er das tun! Wenn jemand Zeuge ist eines begangenen Unrechtes oder einer unmoralischen Handlung, gegen die die Tora protestiert und gegen die sie ein aktives Vorgehen verlangt, dann soll er sich offen dazu äußern, und er soll handeln! Wenn er sieht, dass die ernannten Führer schweigend und untätig zusehen, dann soll ihm dies bewusst sein: Genau darin mag für ihn seine eigene Chance liegen, damit er sich so einen G-ttlichen Lohn erwerben kann.

Denn G-tt hat einen großen Plan für die ganze Welt; und dieser sieht vor, dass sich jedem einzelnen gewisse Mizwot bieten, dass ihm persönlich bestimmte Gelegenheiten gegeben werden, um die Tora zu "tun"; ihm allein, und keinem anderen, bietet sich hier die Chance, und gerade jetzt, dies zur Erfüllung und Ausführung zu bringen. Wenn man daher feststellen muss, dass niemand zu handeln bereit ist in einer Situation, die nach der Tat verlangt und die sich ihm persönlich stellt, dann ist der Grund dafür möglicherweise dieser: Dies ist jetzt seine eigene, ganz individuelle Mizwa, und er allein ist aufgerufen, sie zu erfüllen.