Das Exil in Ägypten war für das jüdische Volk in verschiedener Hinsicht das schwerste aller Exile, welches das Volk in seiner langen Geschichte erleiden musste:
- Das Volk hatte damals die Tora noch nicht erhalten. Obwohl auch zu dieser Zeit schon viel studiert wurde, kann das Studium der damaligen Zeit nicht mit dem Studium der Tora verglichen werden, dass auf g-ttlicher Offenbarung beruht. Während aller späteren Exile stärkte die Tora den Mut und die Hoffnung des jüdischen Volkes, doch in Mizrajim war sie noch nicht gegeben worden.
- Das Exil in Ägypten war das erste und damit auch das am schwersten zu ertragende. Ein Mensch, dem ein schreckliches Unglück widerfährt, wird davon beim ersten Mal am schwersten betroffen. Wenn ihm, G-tt behüte, das selbe Unglück nochmals widerfährt, ist er geistig davor gewappnet und es kann ihn nicht mehr so stark treffen. In allen anderen Exilen konnte sich das jüdische Volk auf Mizrajim berufen, doch in Mizrajim befanden sie sich zum ersten Mal in einer solchen Situation.
- In Ägypten befanden sich alle Juden am selben Ort und die Versklavung traf alle mit der selben Wucht. Keiner konnte dem Anderen moralische und finanzielle Unterstützung geben, da alle selbst vom gleichen Schicksal betroffen waren. In anderen Exilen dagegen, befanden sich die Juden an verschiedenen Orten. Ging es den Juden an einem Ort schlecht, konnten sich Juden am anderen Ort erholen und ihre Brüder unterstützen.
- Mizrajim war ein sehr streng bewachtes Land. Unsere Weisen sagen, dass es einem Sklaven nie gelang, aus Mizrajim zu flüchten.
Wie aber konnten die Juden in Mizrajim das Exil trotz aller Schwierigkeiten durchstehen? Unsere Weisen erzählen, dass die erste Aufgabe mit der Jakob den Jehuda betraute, die Gründung eines Lehrhauses war. Dieses Lehrhaus war während der Versklavung in Ägypten ständig in Betrieb und so wurde sicher gestellt, dass die jüdische Tradition auch unter den schlimmsten Umständen erhalten blieb. Dies ist auch eine Lehre für alle Generationen: Das jüdische Volk braucht immer Jeschiwot (Lehrhäuser der jüdischen Überlieferung), um die Tradition auch unter schwierigsten Umständen weiterführen zu können.
Es stellt sich jedoch die Frage, weshalb Jakob seinen Sohn Jehuda mit der Aufgabe der Gründung eines Lehrhauses betraute, wo doch Josef schon in Mizrajim war und dies sicher mit großem Erfolg hätte durchführen können?
Der Unterschied zwischen Josef und seinen Brüdern und Vorvätern bestand darin, dass diese ein Nomadenleben als Viehhirten führten, während Josef durch die Umstände direkt ins Zentrum der Zivilisation katapultiert wurde.
Es war kein Zufall, dass sich unsere Vorväter das Nomadenleben aussuchten. Als Viehhirten hatten sie relativ ruhiges und isoliertes Leben, welches ihnen erlaubte, ihren großen Gedanken nachzuhängen und ihr inneres Seelenleben zu einem Grad höchster Perfektion zu entwickeln. So waren unsere Vorväter ständig ungehindert mit Lernen und Geistigem beschäftigt.
Josef musste jedoch eine ganz neue Form des G-ttesdienstes entwickeln, was ihm auch gelang: Er musste lernen, seinen Geistigkeit auch während Zeiten großen Stresses und materieller Verpflichtungen und Verantwortungen nicht zu vernachlässigen. So konnte Josef äußerlich ganz Ägypten auf die sieben Hungerjahre vorbereiten, was bestimmt keine leichte Aufgabe war, und gleichzeitig innerlich sein Equilibrium aufrecht erhalten und in den tiefsten Gedanken an G-tt hängen.
Obwohl es Josef gelang, diesen Spirituellen Akrobatik-Akt meisterhaft auszuführen, war er doch nicht der richtige Kandidat, um den Posten eines Rosch Jeschiwa, eines Lehrers und geistigen Führers dieser Lehrschule Jakobs zu besetzen. Denn ein Rosch Jeschiwa muss eine Persönlichkeit sein, welche nur von Tora und Geistigem durchdrungen ist. Der ein reines Geistesleben führt. Nur ein solcher Mensch und ein solcher Ort, wo diese Art Leben von den Schüler (vielleicht nur während einiger Jahre, aber dafür ganz) und Lehrern gelebt wird, besitzt genügend Kraft, das ganze Volk mit seinen geistigen Wurzeln zu verbinden und zu garantieren, dass auch in Ägypten die besondere Eigenart des jüdischen Lebens, wie es von unseren Vorvätern begründet wurde, nicht verloren geht.
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