Himmel oder Erde? Kollel oder Kibbuz? Sind wir spirituelle Wesen, deren materielles Leben eine Herausforderung ist, die wir bewältigen müssen, oder bestenfalls ein Werkzeug, das wir nutzen sollten, um spirituelle Ziele zu verfolgen; oder sind wir Gärtner, von unserem Schöpfer beauftragt, die Welt, in der wir leben, zu hegen und zu pflegen?

Darüber diskutieren wir Juden, seit wir ein Volk sind. Die erste Botschaft, die Mosche uns vom Berg Sinai brachte, lautete: G-tt will, dass wir sein „Königreich der Priester“ und sein „heiliges Volk“ werden. Andererseits gab G-tt uns am selben Berg die Tora: 613 Gebote „die fast ausnahmslos materielle Angelegenheiten und weltliche Dinge betreffen“ (Tanja, Kap. 4). Einerseits ermahnt uns die Tora: „Seid heilig, denn ich, euer G-tt, bin heilig“ (Lev. 19:2). Andererseits ruft der Prophet aus: „Er hat die Welt nicht für das Tohu (Chaos, aber auch Transzendenz) geschaffen, sondern dafür, dass wir sie bevölkern“ (Isaja 45:18), und wir versprechen dreimal am Tag im Alejnu-Gebet, „die Welt zum Königreich G-ttes zu machen“.

Die beiden Seiten der Debatte erreichen in der talmudischen Abhandlung Brachot einen Höhepunkt, und zwar am Beispiel und verkörpert von Rabbi Jischmael und Rabbi Schimon bar Jochai:

Es steht geschrieben: „Und ihr sollt euer Korn, euren Wein und euer Öl ernten“ (Deut. 11:14). Was lernen wir daraus? Aber es heißt weiter: „Diese Tora soll nicht von eurem Mund weichen (und ihr sollt sie Tag und Nacht studieren)“ (Joschua 1:8). Müssen wir diese Gebote nicht buchstäblich befolgen? Andererseits sollen wir aber auch „unser Korn ernten“, uns also mit weltlichen Dingen beschäftigen. Das sind die Worte von Rabbi Jischmael.

Rabbi Schimon bar Jochai sagt: Wenn ein Mensch im Herbst pflügt, im Frühling sät, im Frühsommer erntet, im Spätsommer drischt und worfelt, wenn der Wind weht ­ was wird dann aus dem Studium der Tora? Nun, wenn das Volk Israel den Willen des Allm-chtigen befolgt, werden andere seine Arbeit tun: „Und Fremde werden eure Schafe weiden“ (Isaia 61:5; vgl. Talmud, Brachot 35a).

Wie also ist die Frage zu beantworten? Es ist sehr schwierig, von uns Juden eine klare Aussage zu erhalten. Meist sagen wir: „Beide haben Recht“ oder „Im Grunde sagen beide das Gleiche“. In diesem Fall fährt der Talmud fort:

„Viele richteten sich nach Rabbi Jischmael und hatten Erfolg. Viele bevorzugten Rabbi Schimon und hatten keinen Erfolg.“

Ein Jude ist also ein vollwertiger Bürger des Planeten Erde. Nun ja, nicht genau. Während Rabbi Jischmaels Haltung als „erfolgreicher“ erklärt wird, nimmt die Auffassung von Rabbi Schimon im jüdischen Bewusstsein einen viel größeren Raum ein. In unserem Kalender ist sogar ein besonderer Tag (Lag BaOmer) dem Gedenken an sein Leben und unserer traditionellen Verehrung jener Weisen und Zaddiks gewidmet, die ihr Leben lang lernen und beten. Man beachte auch, dass der Talmud sagt, „viele“ hätten mit Rabbi Jischmaels Methode Erfolg gehabt, nicht aber mit der von Rabbi Schimon. Das heißt, dass Rabbi Schimons Methode für „einige“ nicht nur ein Ideal ist, sondern eine praktische Lebensweise.

So war es von Anfang an. In unserer ersten Generation als Volk, noch in der Wüste, wurde das Volk Israel in zwei Gemeinden geteilt: 1. die zwölf Stämme, die Teile des Landes erhielten und Bauern, Händler, Politiker und Soldaten wurden; 2. der Stamm Levi, dessen Mitglieder als Leviten und Kohanim dem Dienst an G-tt im Heiligen Tempel „geweiht“ wurden.

Und die Leviten waren gewiss weniger zahlreich: Sie waren ein Stamm von 13, und sie waren bei weitem der kleinste. (Die Volkszählung ermittelte für die 12 Stämme 603.550 Männer zwischen 20 und 60 Jahren, für die Leviten 22.300 Knaben und Männer ab einem Alter von 1 Monat.)

Was entscheidet, wer zu den „Vielen“ und wer zu den „Wenigen“ gehört? Wenn wir dem Modell Leviten/Israeliten folgen, scheint es auf die Abstammung anzukommen: Man wird entweder als Gärtner für G-ttes Erde oder für ein spirituelles Leben geboren.

Maimonides ist anderer Meinung:

Geweiht ist nicht nur der Stamm Levi, sondern jeder Mensch auf Erden, dessen Geist und Verstand ihn befähigen, G-tt zu dienen, anzubeten und zu kennen; jeder, der gerecht ist, wie G-tt ihn geschaffen hat, und der das Joch der vielen weltlichen Ziele des Menschen abgeworfen hat. Ein solcher Mensch ist ein Heiliger, und G-tt wird immer ein Teil von ihm und sein Schicksal sein und auf dieser Welt für ihn sorgen, so wie er für die Kohanim und die Leviten sorgte. (Mischna Tora, Gesetze der Schmitta und der Halbjahrzyklen, 13:13).

Wie immer sagt G-tt also zu uns: Ihr dürft wählen.