Völlig ortsunabhängig, von Sinai bis Jerusalem, von Babylon bis Cordoba und von Tunis bis nach Krakau war und ist die wichtigste Beschäftigung des jüdischen Volkes das Toralernen. Alles andere spielt eine untergeordnete Rolle.

Ein nichtjüdischer Gelehrter, der während des ersten Weltkrieges Warschau besuchte, stellte fest:

“Einmal bemerkte ich eine Menge Wagen auf einem Parkplatz, jedoch ohne Fahrer. In meiner Heimat wüsste ich genau, wo nach den Fahrern zu suchen sei. Hier jedoch zeigte mir ein kleiner jüdischer Junge den Weg zum Schtiebl der jüdischen Fahrer. Dieses Schtiebl bestand aus zwei Räumen, von denen einer mit Talmud Ausgaben gefüllt war und der andere dem Gebet diente. Alle Fahrer waren in tiefes Lernen und lebhafte Diskussionen über religiöse Themen vertieft. Ich fand heraus, dass jede Berufsgruppe ihr eigenes Schtiebl besaß, in dem jeder freie Augenblick dem Lernen gewidmet werden konnte.”

Der Besucher irrte sich jedoch. Es handelte sich hierbei nicht um Wagenfahrer, die Tora lernten, sondern um Toragelehrte, die Wagen fuhren.

Dieses Phänomen ist keine rein polnisch-jüdische Erscheinung. In Bagdad schlossen die Ladenbesitzer nach drei Stunden ihre Geschäfte und widmeten den Rest des Tages dem Toralernen. Auf der Insel Elba, wo es wenig Arbeit für Juden gab, lernten sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Der berühmte Photograf Roman Vishniac berichtete, er habe in den karpatischen Bergen Bauern mit den einfachsten Werkzeugen angetroffen, die während ihrer Arbeit über Metaphysik diskutierten.

Überblick

Wie halten es die Juden aus, den ganzen Tag und stets im selben Buch, der Tora, zu lernen?

Die Tora ist mehr als das eine Buch. Hier eine Liste ihrer Hauptkategorien:

Chumasch: Das relativ kurze Anweisungshandbuch ist oft ohne den Rest der Tora unverständlich, wie z.B.: “Seid fruchtbar und mehret euch.” Beispieltitel: Die fünf Bücher Moses.

Halacha: Dinge, die wir tun, die wir nicht oder nur unter bestimmten Umständen tun sollen, mit all ihren genauen Anwendungen, wie z.B.: “Die erste Priorität ist das Heiraten.” Beispieltitel: Mischna, Maimonides, Schulchan Aruch, die verschiedensten halachischen Schriften der halachischen Autoritäten aller Zeiten bis in die Gegenwart.

Talmud: Diskussionen, Debatten und Meinungsverschiedenheiten, wie z.B.: “Was passiert, wenn Menschen im Labor geklont werden?” Beispieltitel: Talmud, die Kommentatoren, das talmudische Lexikon.

Agada: Parabeln und Geschichten mit verborgenen Botschaften, wie z.B.: “Es war einmal, dass die Kinder eines geklonten Mannes vor König Salomon erschienen ...” Beispieltitel: Ein Yaakov, Midrasch, Maharal, Geschichten über Zadikim.

Kabbala: Esoterisches Wissen über die Welt, wie z.B.: “Wenn wir einen Menschen klonen wollen, sollten wir uns zuerst mit den höheren Einheiten auseinandersetzen ...” Beispieltitel: Zohar, Buch der Schöpfung, Buch des Paradieses, Der Baum des Lebens.

Chassidut: Das innere Licht und das Wesentliche der höheren Sphären, wie z.B.: “Ist unsere Materie ein Klon der oberen Welten?” Beispieltitel: Tanja, Chassidisches Erbe, Likute Sichot.

Wie funktioniert das Toralernen?

1. Stören
Wir können uns natürlich allein mit einem Buch in eine ruhige Ecke setzen und niemanden stören. Das ist allerdings nicht die jüdische Idee des Lernens. In einer Lernstube (“Bejt Hamidrasch”) sitzen mindestens zwei Lernende zusammen, diskutieren lautstark einen Text und verwickeln jeden, der in Reichweite sitzt, ebenfalls in die Diskussion.

Auch wenn uns niemand zuhört, soll das Toralernen keine ruhige Angelegenheit sein, denn die Tora muss lebendig bleiben. Deshalb wird sie vom Lesenden laut gelesen und erklärt.

Als einmal Bruria, die Frau eines großen Gelehrten, einen Schüler ihres Mannes ruhig dasitzen sah, gab sie ihm einen Tritt. Voller Empörung schrie dieser auf: “Ich lerne Tora!”

Daraufhin ermahnte sie ihn: “Du lernst überhaupt nichts! Du wirst Tora vergessen, denn um etwas zu behalten, muss jedes Glied des Körpers beteiligt sein!”

2. Das Lernen genießen
Im Gegensatz zu anderen Studien ist das Toralernen nicht ein Mittel zum Zweck der Wissensansammlung. Vielmehr dient das Toralernen selbst bereits seinem eigenen Zweck: Es geht darum, die Erfahrungen zu sammeln, Fragen zu stellen, Antworten zu suchen und sich in die Denkweise der Weisen hineinzuversetzen, - sich also mit einem höheren Intellekt zu verbinden.

Aus diesem Grund sind die Fragen beim Toralernen genauso wichtig, wie die Antworten. Die Tora besteht aus beiden.

3. Im Herzen einprägen
Wir können die Worte der Tora entweder rein intellektuell aufnehmen oder sie uns in unserem Herzen einprägen. Der Unterschied ist, dass unser Intellekt Worte aufnimmt und ausradiert, ins Herz eingeprägte Worte aber ein Teil von uns werden. Indem wir einen Abschnitt aus der Tora lernen, ihn viele Male wiederholen, auswendig lernen, anderen erklären und schließlich diesen Abschnitt verinnerlichen, verbinden wir uns mit der Tora zu einer neuen Einheit.

4. Ankerzeit
Das Toralernen bildet den Kern des jüdischen Lebens. Alles andere hat sich dieser Aufgabe unterzuordnen. Integrieren wir in unseren Tagesplan eine bestimmte Zeit für das Toralernen und legen alle anderen Termine dementsprechend fest. Widmen wir die Zeit des Toralernens ausschließlich dem Lernen und schalten alle eventuell auftretenden Störfaktoren aus.

5. Den Schritt wagen
Die wörtliche Übersetzung von Tora bedeutet “Anweisungen” und außerdem auch “Licht”. Die Tora ist ein hell leuchtendes Licht, das uns zeigt, wie wir gehen sollen. Suchen wir für alles, was wir lernen, eine praktische Anwendung und leben so die Tora. Versuchen wir, mindestens eine Stunde täglich fürs Toralernen einzuplanen und diesem Lernen den Rest des Tages unterzuordnen.

6. Gruppenlernen
Je mehr Leute zusammen Tora lernen, desto besser. Wenn zehn Juden zusammen lernen, gesellt sich die g-ttliche Gegenwart zu ihnen und verwandelt ihre Umgebung in einen heiligen Ort.