Eines der Gebote unserer Parascha betrifft den „Nasir“, eine Person, welche sich durch ein Gelübde vom Weingenuss, sowie vom Kontakt mit den Toten und vom Haare schneiden entsagen will.

Da die Tora es dem Menschen ermöglicht, ein solches Gelübde zu sprechen, und da ihn die Tora auch als „Kadosch“ – „Heiliger“ bezeichnet, können wir davon ausgehen, dass ein solches Gelübde aus der Sicht unserer Tora als positiv betrachtet wird.

Daher muss es erstaunen, dass der „Nasir“ beim Abschluss seines Gelübdes, bevor er wieder seine Haare schneiden und Wein trinken darf, ein Sündenopfer darbringen muss! Unsere Weisen meinen dazu:

„Er hat gesündigt, weil er sich vom Wein entsagt und sich dadurch diesen Genuss verboten hat. Es genügt, was die Tora verboten hat. Du musst nicht noch zusätzliche Verbote auf Dich nehmen!“

Wie können wir diese anscheinend widersprüchliche Aussagen über das „Nesirut“ – die Enthaltsamkeit, in Einklang bringen?

Prinzipiell, so schreibt Maimonides, soll der Mensch stets bestrebt sein, in all seinen Eigenschaften den Mittelweg zu finden. Er soll weder in das Extrem der übertriebenen Genusssucht, noch ins Extrem der übermässigen Enthaltsamkeit abweichen. Die Ge- und Verbote der Tora sollen dem Menschen u.a. auch diese Idee beibringen, indem viele Esswaren verboten sind, nicht jedoch der Fleischgenuss oder Weinkonsum usw. Dadurch soll sich der Mensch an den Gedanken gewöhnen, dass ihm nicht einfach alles zum konsumieren gegeben ist, dass er jedoch sein Leben mit Mass geniessen darf.

Unter gewöhnlichen Umständen genügen diese Vorschriften der Tora und es wäre überflüssig, und deshalb auch falsch, zu versuchen, sich noch mehr Dinge zu verbieten, welche nach der Tora erlaubt sind.

Doch kann es aussergewöhnliche Umstände geben, die vom Menschen einen solchen Schritt verlangen. Sollte ein Mensch z.B. miterleben, wie der Alkoholgenuss das Leben eines Mitmenschen zerstört hat, so darf ihm dies als Mahnung dienen, befristet völlig und ganz auf diese Art von Genuss zu verzichten und ein „Nasir“ zu werden.

Nun verstehen wir auch, weshalb der „Nasir“ einerseits als „Heiliger“ bezeichnet wird, und anderseits doch ein Sündenopfer bringen muss: Seine Motivation, ein solches Gelübde sich aufzuerlegen ist zwar gut, der Akt der übermässigen Enthaltsamkeit an sich ist jedoch keine Mizwa, sondern im Gegenteil, eine Sünde.