Die absolute Notwendigkeit des Bewahrens jedes Lebens und besonders des menschlichen Lebens ist klares Gebot in unserem Wochenabschnitt, welches durch die eindeutige Warnung zum Ausdruck kommt: Blicke nicht weg, wenn dein Nächster stirbt! Raschi erläutert: „Eines Menschen Tod mitanzusehen, und du kannst ihn retten, wie sein Ertrinken im Fluss, und ein wildes Tier oder Räuber überfallen ihn.“1

Raschis Kommentar wirft ein paar Fragen auf: Was ist an dem Vers selbst nicht eindeutig, dass Raschi es für notwendig hält ihn zu erklären? Wozu bringt Raschi Beispiele für eine so verständliche Sache? Eigentlich hätte Raschis Kommentar zu unserem Vers anders lauten müssen: „Wie sein Ertrinken im Fluss oder ein Überfall durch ein wildes Tier oder einer durch Räuber“; Raschis Erläuterung zufolge aber handelt es sich um ein und dieselbe Situation, indem ein Mensch im Fluss ertrinkt und gleichzeitig von einem wilden Tier oder Räubern überfallen wird.

Wie weit gehen?

In Wahrheit benötigen wir kein spezielles Gebot um unserer Pflicht das Leben anderer zu retten nachzugehen. Die Thora lehrt uns das Vermögen unseres Nächsten nicht zu schädigen, ja sogar zu bewahren. Und wenn wir verpflichtet sind das Vermögen unseres Mitmenschen zu bewahren, obliegt uns umso mehr die Bewahrung seines Lebens!

Unser Vers aber will uns etwas Neues lehren. Die Thora will uns damit klarmachen, wie weit der Mensch zu gehen hat um seinen Nächsten zu retten. Man darf sich zwar für die Rettung des Nächsten nicht in Lebensgefahr begeben (da Seele und Körper Eigentum G-ttes sind), doch der gesunde Menschenverstand könnte meinen, dass man von der Pflicht jemand anderen zu retten auch befreit sei, wenn für den Rettenden die Gefahren geringer sind. Die Thora ist anderer Meinung. Sie gebietet selbst in solchen Situationen nicht beim Blut deines Nächsten still zu stehen.

Gefährliche Lage

Deshalb führt Raschi seinen Kommentar an. Zuallererst legt er fest: Du sollst nicht „bei seinem Tod zusehen“, wenn „du ihn retten kannst“. Das heißt: Wenn du ihn mit Sicherheit retten kannst, musst du es tun.

Raschi legt weiters fest: Dazu bist du ebenfalls verpflichtet, wenn für dich eine gewisse Gefahr besteht! Dies veranschaulicht Raschi mit dem Beispiel von einem Mann, der im Wasser ertrinkt und gleichzeitig von Räubern oder einem wilden Tier angegriffen wird. Aus dem Fluss könnte sich der Mann alleine retten wie auch die Räuber oder das wilde Tier überwinden. Doch die Kombination beider Gefahren macht seine Lage lebensbedrohlich. In so einem Fall würde die Involvierung einer zu Hilfe eilenden Person den Gefährdeten mit Sicherheit retten, obwohl jene Person sich dadurch selbst in eine gewisse Gefahr bringt. Das ist eine klassische Situation, in der man verpflichtet ist nicht beim Blut deines Nächsten still zu stehen.

„Du kannst ihn retten“!

Der Lubawitscher Rebbe interpretiert Raschis Kommentar und die daraus gezogene Lehre in Hinblick auf die Gefahren in unserer Generation: Obwohl das jüdische Volk unzählige Pogrome überwunden hat und heute (verhältnismäßig) seine Ruhe findet, ereignet sich doch das „schwerste Pogrom“ in unserer Zeit – die Assimilierung unseres Volkes, G-tt behüte, unter den Völkern der Welt! Und die Thora gebietet uns nicht still zu stehen bei dem Blute deines Nächsten, sondern seine jüdische Identität zu retten und zu stärken!

Denn „du kannst ihn retten“ – anhand einer Lehre des Baal Schem Tows2 lässt sich Raschis Kommentar wie folgt erklären: Wenn G-tt dich in eine Lage bringt, in der du die große seelische Not deines Nächsten siehst (und Zufälle gibt es nicht), beweist dies selbst, dass du ihn retten kannst und musst, und dass dir Kräfte dafür gegeben sind; denn ansonsten hätte man dich nicht in diese Situation gebracht!

(Likutej Sichot, Band 32, Seite 120)