VI. Es wurde oben gesagt, dass das Konzept von Keduscha (Heiligkeit) und Hawdala (Trennung) bedeutet, dass es Heiligkeit auch in den Dingen geben muss, die äußerlich mit denen der Nationen der Welt identisch erscheinen.
Das ist auch die Bedeutung des Verses, der später in der Parascha steht: „Ihr sollt euch heiligen, und ihr sollt heilig sein“1, was bedeutet: „Heilige dich auch in dem, was dir erlaubt ist.“2 Auch in dem, was erlaubt ist, in den Dingen, denen man nachgehen darf, muss man heilig sein, so wie es geschrieben steht: „Erkenne Ihn auf all deinen Wegen.“3
VII. Die Verpflichtung, „dich auch in dem zu heiligen, was dir erlaubt ist“, ist nicht, wie manche behaupten, ein Aspekt von Hidur4 oder dergleichen. Es handelt sich um ein positives Gebot der Tora.5 Von den Mizwot heißt es: „Man soll sich nicht hinsetzen und sie gewichten“6, denn die am wenigsten schweren und die schwersten sind im Wesentlichen gleich.7 Dieselbe Strenge und Autorität, die für alle Mizwot gilt, gilt auch für das Gebot „Heiligt euch.“8
Außerdem erklärt Chassidut, dass die Awoda „Heilige dich auch in dem, was dir erlaubt ist“ die zukünftige Erlösung bewirken wird. Das Studium der Tora, das Befolgen der Mizwot und das Vermeiden von Dingen, die verboten sind, reichen nicht aus, um die kommende Erlösung herbeizuführen. Es ist notwendig, „dich auch in dem zu heiligen, was dir erlaubt ist.“
Unsere Weisen sagten dazu: „In der Zukunft wird ‚heilig‘ vor den Zaddikim (Gerechten) gesagt werden, so wie es vor dem Heiligen, gesegnet sei Er, gesagt wird.“9 Alle Manifestationen der Zukunft hängen von unseren gegenwärtigen Handlungen und Awoda ab. Offensichtlich gilt dies auch für die zukünftige Manifestation von „heilig“, das vor den Zaddikim gesagt wird; d. h., dies wird durch die Awoda der Heiligkeit erreicht werden, die Awoda von „Heilige dich auch in dem, was dir erlaubt ist.“ (Was den Begriff Zaddikim, die Gerechten, betrifft, so bezieht sich dieser auf alle Juden, wie es heißt: „Und Dein Volk sind alle Zaddikim.“10 )
VIII. Um dieses Prinzip zu erklären:
Wenn man von erhabenen Manifestationen (Orot – Lichter) spricht, wird das „Licht“ umso mehr beeinträchtigt, je größer und erhabener es ist, selbst durch den geringsten Grad des Verbergens. Dies ist analog zu dem Kommentar unserer Weisen zu dem Vers11 „Rings um Ihn stürmt es gewaltig“, dass G-tt mit den Zaddikim auch bei Dingen, die so leicht sind wie ein einziges Haar, besonders genau ist.12 Je größer der Zaddik, desto mehr wird er selbst von der kleinsten Sache beeinflusst.
Es gibt eine weitere Analogie im Zusammenhang mit der Beschneidung.13 Unser Vater Awraham verdiente, dass G-tt sich ihm als E-l Scha-daj offenbarte.14 Aber bevor Awraham diese Offenbarung gewährt wurde, musste er sich zuerst beschneiden, indem er die grobe Vorhaut entfernte – „Wandle vor Mir und sei vollkommen.“15 Zur Zeit von Matan Tora (als die Tora Israel am Berg Sinai gegeben wurde) gab es eine Offenbarung des Namens Hawaja,16 der auf einer höheren Ebene als der Name Scha-daj steht, wie es geschrieben steht: „Ich erschien ... durch (den Namen) E-l Scha-daj, aber Ich war ihnen nicht unter Meinen Namen Hawaja bekannt.“17 Mila (Beschneidung), die Entfernung der groben Vorhaut, reichte für diese größere Offenbarung am Sinai nicht aus. Sie erforderte auch die Pria, die Entfernung der dünnen Membran. So steht geschrieben: „Beschneide die Kinder Israels zum zweiten Mal“18, ein Hinweis auf die Pria19, die ein neues Gebot war, das Mosche am Sinai verordnet wurde.20
Dasselbe Prinzip gilt für die zukünftige Manifestation (der messianischen Erlösung). Sie wird sogar über die Manifestation am Sinai hinausgehen und erfordert daher eine Beseitigung selbst des subtilsten Hindernisses (der „Vorhaut des Herzens“21 ). Diese Beseitigung bezieht sich nicht nur auf das Verbotene, sondern auch auf das Erlaubte, d. h. auf das Konzept „Heilige dich auch in dem, was dir erlaubt ist.“
IX. All dies erklärt die allgemeine Prämisse, dass die zukünftige Manifestation eine größere Awoda erfordert als jede der vorangegangenen Manifestationen.
Die besondere Beziehung zwischen dieser zukünftigen Manifestation und der Awoda „Heilige dich auch in dem, was dir erlaubt ist“ wird aus dem Folgenden ersichtlich.
Die Einzigartigkeit der zukünftigen Manifestation besteht darin, dass sie eine Offenbarung des transzendenten Wesens der G-ttlichkeit sein wird, die die der G-ttlichen Immanenz in den verschiedenen Welten übertrifft. Denn in der Zukunft wird der letztendliche Zweck der Schöpfung verwirklicht werden: „Ihm, dem Gesegneten, soll eine Wohnstätte in den unteren Welten bereitet werden“22 – wobei der Ausdruck „Ihm“ die G-ttliche Essenz meint.
Dies ist vergleichbar mit dem Wohnsitz eines sterblichen Königs: Der König wohnt mit allem, was er hat, in seiner Wohnstätte, und nicht nur die Aspekte seiner königlichen Persönlichkeit, die sich in bestimmten Kräften oder Fähigkeiten manifestieren. Die „Wohnstätte für Ihn in den unteren Welten“ ist ebenfalls eine Wohnstätte für die G-ttliche Essenz.
Die Verwirklichung einer Wohnstätte für die G-ttliche Essenz erfordert, dass sowohl die Awoda als auch die Person, die diese Awoda durchführt, in ihrem Kern und ihrer Essenz betroffen sind. Dies kann nur mit einer Awoda von „Heilige dich auch in dem, was dir erlaubt ist“ geschehen, wie weiter unten erklärt wird.
X. Eine Awoda von „Heilige dich auch in dem, was dir erlaubt ist“ hat eine größere Wirkung auf die betreffende Person als ihre vorgeschriebene Einhaltung von Tora und Mizwot.
Eine vorgeschriebene Befolgung von Tora und Mizwot lässt die Möglichkeit zu, dass man sein Ego behält, außer dass man sein Ego dem G-ttlichen Willen unterwirft, wenn man zum Tora-Studium und zur Einhaltung der Mizwot verpflichtet ist. Diese vorgeschriebene Herangehensweise betrifft also nur die äußeren Ebenen oder die Ausdehnung der Seele, nicht aber ihren Kern.
Wenn man sich jedoch selbst heiligt, auch in dem, „was dir erlaubt ist“, d. h., auch in solchen Aspekten und Angelegenheiten, die technisch gesehen seine eigenen sind, verzichtet man faktisch auf die Selbstbehauptung und alle daraus abgeleiteten Ansprüche. Es ist eine Verneinung des Ichs. Diese Haltung berührt die eigentliche Essenz der Seele.
Das ist in der Tat die Bedeutung von „Ihr sollt Mir heilig sein“23, nämlich analog zu der Interpretation der Mechilta zu dem Vers24 „Ihr sollt Mir ein wertvoller Schatz sein“: „Ihr sollt von Mir ganz in Besitz genommen sein und euch mit den Worten der Tora beschäftigen, und nicht mit anderen Dingen.“25 Wenn man völlig von der Sorge um sich selbst befreit ist und erkennt, dass selbst die erlaubten Dinge nicht wirklich seine eigenen sind, sondern mit der Heiligkeit zusammenhängen, ist man „von Mir ganz in Besitz genommen“, sein ganzes Wesen geht in der G-ttlichkeit auf.
Indem man G-tt mit seiner eigenen Essenz dient, steht man mit der Höchsten Essenz in Beziehung: Die Realität der eigenen Essenz geht in der Realität der ultimativen Essenz auf – „In der Zukunft wird ‚heilig‘ vor den Zaddikim gesagt werden, wie es vor dem Heiligen, gesegnet sei Er, gesagt wird.“
XI. Der Ansatz „Heilige dich auch in dem, was dir erlaubt ist“ erhebt auch die Awoda selbst über die vorgeschriebene Einhaltung von Tora und Mizwot:
Matan Tora verleiht der Einhaltung der Mizwot, wie sie von den Patriarchen26 praktiziert wurde, eine zusätzliche Qualität: Die Awoda der Patriarchen war auf einer rein spirituellen Ebene,27 während die Awoda nach Matan Tora die physische Realität einbezieht.28 Die Awoda der Patriarchen konnte nur bis zur Quelle der geschaffenen Wesenheiten reichen, war also begrenzt.29 Sicherlich ist eine spirituelle Realität ein größeres Gefäß oder Behältnis als etwas Physisches. Dennoch heißt es bei der Übergabe der Tora: „Anochi (Ich bin) ...“30 Anochi ist ein Akronym für „Ana Nafschi Ketawit Jehawit – Ich Selbst habe geschrieben, gegeben“ (d. h., Ich habe geschrieben und Mein eigenes Selbst gegeben);31 die G-ttliche Essenz Selbst wurde (in der Tora) gegeben. Auf dieser Ebene spielt es keine Rolle mehr, ob sie geistig oder materiell ist. In der Tat steigt das Erhabene herab, um sich auf verhältnismäßig niedrigeren Ebenen zu manifestieren.
Dennoch bleiben auch nach Matan Tora die restriktiven Grenzen der Tora bestehen: Die G-ttlichkeit ist ausschließlich in Mizwot eingekleidet, und nicht in anderen Dingen.
Das Tora-Gesetz ordnet also an, dass man sich vor denjenigen erheben muss, die eine Mizwa verrichten,32 weil „der Allmächtige zu dieser Zeit in ihren Seelen wohnt und sich darin einkleidet.“33 Dies gilt natürlich nur für diejenigen, die eine Mizwa verrichten, und nicht für diejenigen, die einer freiwilligen Tätigkeit nachgehen, auch wenn diese um des Himmels willen getan wird. Denn der Allmächtige hat sich nur in die Mizwot eingekleidet.
In der Zukunft jedoch, mit der endgültigen Manifestation der G-ttlichen Essenz, wird es keine Einschränkungen mehr geben: Die G-ttlichkeit wird überall und in allem wahrgenommen werden. Es wird offenkundig werden, dass es „keinen Ort gibt, an dem Er nicht wäre“34 und dass „es außer Ihm nichts sonst gibt.“35
XII. Ausdrücklicher formuliert:
Der Sohar erklärt, dass es drei Ebenen gibt: den Heiligen, gesegnet sei Er, die Tora und Israel, und diese sind „sowohl verborgen als auch offenbart.“36
Der „offenbarte Aspekt“ des Heiligen, gesegnet sei Er, ist der Aspekt der G-ttlichkeit, der mit den Welten verbunden ist (die G-ttliche Immanenz) und die Ursache für die sogenannte „natürliche Ordnung“ ist. Der „verborgene Aspekt“ ist der Aspekt der G-ttlichkeit, der die Welten übersteigt (die G-ttliche Transzendenz) und die Ursache für die „übernatürliche Ordnung“ der Wunder ist.
Auf einer tieferen Ebene ist auch die übernatürliche Ordnung in den „offenbarten Aspekt“ des Heiligen, gesegnet sei Er, einbezogen. Gewiss, sie übersteigt die Welten und manifestiert sich auf diese Weise, indem sie die Natur „überwältigt“, weil die Welt als solche sie nicht aufnehmen könnte. Dennoch kann man sagen, dass sie zum „offenbarten Aspekt“ des Heiligen, gesegnet sei Er, gehört, denn schließlich sind die Wunder auch jetzt noch offenkundig.
Der „verborgene Aspekt“ des Heiligen, gesegnet sei Er, ist die Quelle für jene Wunder, die in den natürlichen Erscheinungen verborgen und versteckt sind. Von ihnen heißt es, dass „derjenige, dem ein Wunder widerfährt, sich des Wunders nicht bewusst ist.“37 Die Unermesslichkeit dieser Wunder schließt es aus, dass sie offenkundig werden, selbst in der umfassenden Weise der „Überwältigung der Natur.“ Die Schrift sagt dazu: „Er allein tut Wunder“38, was bedeutet, dass niemand außer Ihm allein von diesen Wundern weiß.39
In der zukünftigen Ära wird jedoch auch diese Art von Wundern offenbar werden, wie es geschrieben steht: „Arenu – Ich werde ihnen wundersame Dinge zeigen.“40 Arenu bedeutet „Ich werde ihnen zeigen“, was eine Manifestation der G-ttlichen Essenz bedeutet. Der Midrasch41 stellt dazu fest: Als sich das Rote Meer teilte, zeigte jeder von denen, die aus dem Meer stiegen, mit dem Finger auf Ihn und sagte: „Dies ist mein G-tt, und ich will Ihn verherrlichen“42 – eine einzelne Bezugnahme auf den Ausdruck „Dies ist“ (der eine Manifestation von Wundern bedeutet, bei denen man sehen kann, dass die Natur überwältigt wurde). In der Zukunft wird es jedoch eine zweifache Bezugnahme auf den Begriff „Dies ist“ geben,43 was die zusätzliche Manifestation der „verborgenen Wunder“ bedeutet.
Die G-ttlichkeit manifestiert sich gegenwärtig nur in Tora und Mizwot, nicht aber in der Welt selbst. Die G-ttlichkeit wird also nur im Übernatürlichen (in der „Überwältigung der Natur“) wahrgenommen, während ihre Präsenz in der Natur selbst verborgen und verdeckt ist. In der Zukunft wird es jedoch eine Offenbarung der G-ttlichen Essenz geben, und somit wird es eine G-ttliche Manifestation sogar in der Welt selbst geben.
XIII. „Es gibt drei Verbindungen, eine ist mit der anderen verknüpft: Israel (ist) mit der Tora verbunden und die Tora mit dem Heiligen, gesegnet sei Er.“ Der verborgene Aspekt des Heiligen, gesegnet sei Er, kann nur durch Awoda erreicht werden, die den verborgenen Aspekt der Seele durch den verborgenen Aspekt der Tora einbezieht.
Pnimijut haTora (der innere Kern, die verborgene Essenz der Tora) erklärt das Prinzip, dass Hawaja und Elokim wirklich eins sind. D. h., (der G-ttliche Name) Elokim, dessen Gematria dem Begriff haTewa44 (Natur) entspricht, und (der G-ttliche Name) Hawaja, der das Übernatürliche bezeichnet, sind letztlich ein und dasselbe, und „Es gibt nichts sonst außer Ihm.“45 Wenn jemand dieses Prinzip studiert und sich darin vertieft, wird Pnimijut haTora in ihm das Bewusstsein von „dem einzig-einen Volk auf Erden“ hervorrufen,46 d. h., dass es auch in „irdischen“ Angelegenheiten ein Bewusstsein für „den Einzig-Einen“ gibt. Dies wird von selbst zu „Ihr sollt euch heiligen und ihr sollt heilig sein – Heilige dich auch in dem, was dir erlaubt ist“ führen, was ihn in seiner eigentlichen Essenz berührt, im „verborgenen Aspekt Israels.“ Dies wiederum wird ihn zu einem Gefäß machen, das den „verborgenen Aspekt des Heiligen, gesegnet sei Er“ in sich aufnimmt.
(Auszüge vom Ma-amar „We-ata Im Schamo-a“ 5717 und
adaptiert aus einer Sicha gehalten am Acharon Schel Pessach 5717)
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