XX. Das Prinzip der Hitaskut (Beschäftigung) mit Ahawat Jisrael wird in der Mischna angedeutet, in der es heißt: „Ganz Israel hat Anteil an Olam haBa (der kommenden Welt).“1 Diese Mischna wird als Einleitung zu Pirkej Awot rezitiert – die erste Mischna davon beginnt: „Mosche empfing die Tora am Berg Sinai.“

Das Traktat Awot wird an jedem Schabbat zwischen Pessach und Schawuot als Vorbereitung auf Kabbalat haTora (Empfang der Tora) gelernt.2 Am Anfang dieser Vorbereitung steht also die Beschäftigung mit Ahawat Jisrael, und das ist die ethische Lektion, auf die die beiden erwähnten Mischnajot anspielen.3

XXI. Man könnte vielleicht argumentieren: „Warum sollte ich meine Zeit mit einem anderen verbringen? Ich bin besser dran, wenn ich diese Zeit mit dem Studium der Tora verbringe!“ So wird er gelehrt: „Alle in Israel haben einen Anteil an Olam haBa“, und niemand weiß, wer größer ist. Es ist sehr gut möglich, dass die andere Person bedeutender ist als man selbst. Schließlich ist Olam haSeh (diese Welt) eine „verkehrte Welt“ (auf dem Kopf stehend),4 in der der eine glaubt, bedeutender zu sein als der andere, und es daher nicht für sinnvoll hält, sich mit dem anderen einzulassen. Olam haBa hingegen ist eine Welt, die klar und deutlich ist, und dort kann man entdecken, dass die Dinge ganz anders sind.

Es besteht kein Zweifel, dass alle Juden, mit denen man zu tun hat, einen Anteil an Olam haBa haben. Schließlich muss man immer wohlwollend über einen anderen urteilen.5 Man kann sich jedoch seines eigenen Status nicht sicher sein, denn die Eigenliebe verbirgt alle Verfehlungen,6 und „glaube nicht an dich selbst ...“7 Indem man also hier und jetzt einem anderen einen Gefallen tut, wird dieser ihn in der kommenden Welt entschädigen – damit der Schüler nicht in Gan Eden ist und sein Lehrer, der ihn die Tora gelehrt und ihn zu diesem Leben von Olam haBa gebracht hat, in Gehinnom ist.8 Der Empfänger geistiger Wohltaten kann also seinen Lehrer vor der Verurteilung bewahren.

Indem man einen anderen an die Tora heranführt, wird man zu seinem Lehrer, und der Schüler wird in Olam haBa argumentieren: „Ich kann ohne meinen Meister nicht hier sein.“9 So wird er aus dem Gehinnom herausgenommen und in Gan Eden gebracht.

XXII. So ist es schon immer gewesen. Heutzutage braucht man nicht einmal bis zur Vollendung der 120 Jahre auf Erden zu warten, denn die Entschädigung kann schon in dieser Welt erfolgen. Denn „Siehe, da steht er hinter unserer Mauer“:10 Der Maschiach steht kurz vor der Ankunft, „Ich warte jeden Tag auf sein Kommen.“11 Der Maschiach wird nicht nur zu Lebzeiten des Jüngsten unter uns kommen, sondern sogar zu Lebzeiten des Ältesten. Die Gunst, die man einem anderen erweist, wird also noch in dieser Welt erwidert werden.

XXIII. Wenn man einem anderen hilft, muss man sich jedoch davor hüten, anzunehmen, dass „meine Kraft und die Stärke meiner eigenen Hand mir all diesen Reichtum verschafft hat.“12 Man muss sich daran erinnern, wie aus der oben zitierten Mischna hervorgeht, dass es Mosche ist, der „Israel liebte“13 und die Tora an Jehoschua weitergab, und Jehoschua14 an die Ältesten, und die Ältesten an die Propheten und so weiter,15 bis hin zu unseren Meistern in jeder Generation, in denen die „Ausstrahlung von Mosche wirkt, die in jeder Generation gegenwärtig ist.“16

(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am Schabbat Paraschat Schemini 5712)