XIV. Der Rebbe, mein Schwiegervater, erzählte, dass R. Levi Jizchak von Berditschew drei Lehren vom Baal Schem Tow hörte.1 Eine davon ist die folgende:

„‚Jede Tora, die nicht mit Arbeit verbunden ist, wird schließlich aufhören zu bestehen.‘2 Der Begriff ‚Arbeit‘ bezieht sich auf die Anstrengung in Ahawat Jisrael (Liebe zu Israel). Wenn die Tora Bestand haben soll, muss sie mit dem Bemühen um Ahawat Jisrael verbunden sein.“

Diese Lektion hatte eine so tiefgreifende Wirkung auf den Rabbi von Berditschew, dass er sein ganzes Leben den Bemühungen um Ahawat Jisrael widmete.

XV. Die Tatsache, dass wir auf dieses Ereignis aufmerksam gemacht wurden, ist ein Beweis dafür, dass es sich auf uns bezieht. Denn alles geschieht durch die G-ttliche Vorsehung in Bezug auf jede einzelne Einzelheit, die eine Anleitung für die Awoda (den Dienst für G-tt) bietet.3

Der Alte Rebbe sagte, dass Chassidut nicht nur für eine bestimmte Gruppe oder Person gilt, sondern für alle Juden.

Das ergibt sich ganz klar aus der Tatsache, dass Chassidut eine Vorbereitung auf die kommende Erlösung ist4 – die sich auf alle Juden bezieht. So wie die Erlösung selbst universell ist, für alle Juden gleichermaßen, so ist es auch die Vorbereitung darauf, d. h. die Chassidut.

Dieselbe Universalität gilt auch für Ahawat Jisrael (Liebe zu Israel), das allumfassende Prinzip der Tora,5 das Prinzip, das der Baal Schem Tow als grundlegend für Chassidut festlegte.6

XVI. Jeder einzelne Jude muss sich in Ahawat Jisrael engagieren und einen Mitjuden beeinflussen. Das kommt auch ihm selbst zugute, wie unsere Weisen7 zu den Versen „Der Arme und der mittelmäßig Begüterte kommen zusammen, der Ewige erleuchtet die Augen beider“8 und „Der Reiche und der Arme kommen zusammen, der Ewige ist ihr aller Schöpfer“9 sagen: So wie es sich mit denen verhält, die im materiellen Sinne reich und arm sind, so verhält es sich auch mit denen, die im geistigen Sinne reich und arm sind: Wenn der Reiche dem Armen hilft, hilft der Allmächtige auch dem Reichen.

In der Mischna10 heißt es: „Wer ist weise? Derjenige, der von jedem Menschen lernt.“ Das bedeutet, dass jeder etwas hat, das ein anderer von ihm lernen kann. Somit ist jeder aufgrund seiner einzigartigen Eigenschaft ein „reicher Mensch.“ Daraus folgt, dass jeder verpflichtet ist, diese Eigenschaft zum Nutzen anderer einzusetzen, die sie nicht besitzen, und im Gegenzug wird er von oben mit den Dingen gesegnet werden, die er selbst nicht besitzt.

XVII. Dieser Grundsatz wird in der Gemara11 explizit dargelegt: Wenn man es versäumt, einem anderen zu helfen, fehlt es auch an der „Erleuchtung der Augen beider“, d. h. an der besonderen Hilfe von oben. Außerdem, so schließt die Gemara, kann der Reiche selbst arm werden. Dies erklärt, warum die Tora ohne Ahawat Jisrael am Ende aufhören wird zu bestehen.

Der Baal Schem Tow fügte noch hinzu, dass es für den Fortbestand der Tora nicht ausreicht, dass es einfach Ahawat Jisrael gibt; es muss im Sinne von „Arbeit“ sein, oder, in den Worten des Baal Schem Tow, „Hitaskut (Anstrengung; vertiefte Beschäftigung) mit Ahawat Jisrael.“

Der Rebbe, mein Schwiegervater, erklärt12 den Begriff Hitaskut als Ausdruck für Esek, das Betreiben von Geschäften. Ein Geschäftsmann sitzt nicht einfach mit seiner Ware zu Hause und wartet darauf, dass jemand auf seine Ware aufmerksam wird, sie zu schätzen weiß und dann kommt, um sie zu kaufen. Das ist keine Art, Geschäfte zu machen. Ein richtiger Geschäftsmann eröffnet ein Geschäft an einer öffentlichen Straße und stellt ein Schild auf, damit alle Passanten wissen, dass er Waren anbietet. Außerdem wirbt er mit der Qualität seiner Waren und überzeugt die Leute, bei ihm zu kaufen. Er unternimmt alle Anstrengungen, um Kunden zu gewinnen.

Der Rebbe erörterte dort das Thema der Beschäftigung mit Tora und Mizwot. Aber derselbe Gedanke gilt auch für die Beschäftigung mit Ahawat Jisrael. Man muss sich bemühen, einem Mitjuden Gefälligkeiten zu erweisen, ihn mit allem, was man hat, zu unterstützen, ihm die Kostbarkeit von Tora und Mizwot zu erklären. Dazu gehört natürlich auch, die Lehren der Chassidut zu erklären und alles zu tun, damit jeder Jude mit den chassidischen Erkenntnissen in Berührung kommt. Das alles ist aber noch nicht genug! Man muss noch dafür sorgen, dass die Empfänger des eigenen Einflusses „so weit Feuchtigkeit aufnehmen, dass sie anderen Feuchtigkeit abgeben können.“13 Denn nur wenn die Mekabelim (diejenigen, die den Einfluss empfangen) selbst Maschpi-im (diejenigen, die den Einfluss ausüben) werden, können wir sicher sein, dass die Haschpa-a (Einfluss) wirklich von ihnen in das Innere aufgenommen wurde.

Dies ist die eigentliche Bedeutung des Ausdrucks „Es werden deine Quellen überströmen auf die Fluren.“14 Eine Quelle bewegt sich weiter. Der Rambam15 erklärt daher, dass eine Wasserlache, die stillsteht und sich nicht weiterbewegt, nicht in die rechtliche Kategorie einer Quelle fällt.

XVIII. Eine der Möglichkeiten, sich zu bemühen, einen anderen nahe an die Tora heranzuführen, besteht darin, auch materielle Gefälligkeiten zu gewähren. Dies ist nicht nur ein integraler Bestandteil von Ahawat Jisrael,16 sondern hilft auch, ihn der spirituellen Wahrheit nahezubringen. Das bedeutet nicht, dass wir materielle Gefälligkeiten von geistigen Konsequenzen abhängig machen sollten. Wir müssen anderen ohne jegliche Vorbedingungen materiell helfen. Dies war in der Tat der einzigartige Ansatz, den der Baal Schem Tow für die Vorgehensweise und die Awoda der Zaddikim Nistarim (verborgene Gerechte) entwickelt hat, nachdem er sich ihrem Kreis im Jahr 5472 (1712) angeschlossen hatte.17

XIX. Hitaskut (Beschäftigung) mit Ahawat Jisrael ist eine Verpflichtung für jeden. Sie obliegt vor allem denjenigen, die von der G-ttlichen Vorsehung an einen Ort geführt wurden, wo Tora und Mizwot vernachlässigt wurden. „An einem Ort, an dem es keine Männer gibt“, haben sie die besondere Pflicht (und das Verdienst), „sich zu bemühen und ein Mann zu sein.“18

Ein solcher Mensch kann möglicherweise argumentieren, dass er auf sich selbst aufpassen und von einem solchen Ort fliehen muss – „Und ich werde meine eigene Seele retten.“ Er muss also wissen, dass es sich um die Rettung von gefährdetem Leben handelt. Wenn es darum geht, gefährdetes Leben zu retten, ist es nicht erlaubt, sich solchen Überlegungen hinzugeben. Die Tatsache, dass die G-ttliche Vorsehung ihn an diesen Ort geführt hat, bedeutet, dass die Vorsehung ihn mit einer Mission beauftragt und ihn mit den Fähigkeiten ausgestattet hat, diesen Ort zu einem Ort von Tora und Mizwot zu machen.

Die Gemara berichtet, dass Raw nach Babylon kam; d. h., der Allmächtige hatte Umstände herbeigeführt, die Raw zwangen, nach Babylon zu kommen.19 Zu dieser Zeit gab es in Babylon eine Reihe von Orten, an denen die Menschen in der Einhaltung verschiedener Gesetze nachlässig waren, zum Beispiel in Bezug auf Schabbat, das Vermischen von Fleisch und Milch und so weiter. Unsere Weisen bezeichneten diese Orte mit dem Begriff Bika, einem Tal, d. h. einem offenen Platz, der tiefer lag als die durchschnittliche Höhe der Umgebung ringsum. Wenn er an solche Orte kam, heißt es: „Raw fand eine Bika und setzte einen Zaun darum.“20

Diese Begebenheit wird, wie alle Geschichten unserer Weisen, nicht erzählt, um uns einen Bericht über historische Geschehnisse der Vergangenheit zu geben, sondern um uns praktische Anweisungen für das Leben zu geben. Ein Jude muss wissen, dass, wo immer er hinkommt, dies durch die G-ttliche Vorsehung geschieht, um diesen Ort zu einem Ort von Tora und Mizwot zu machen. Er muss wissen, dass dies der Zweck seiner Mission ist.

Die Tat von Zedaka (Wohltätigkeit), ob sie nun materiell oder geistig ist,21 hat die Wirkung von „Zedaka erhöht ein Volk“22 ; der Geist und das Herz des Wohltäters werden dadurch tausendfach geläutert („erhöht“).23 So heißt es im Midrasch: „Du hast der Seele des Armen Leben gegeben, morgen wird der Allmächtige dir, deinem Sohn und deiner Tochter Leben geben.“24

Einerseits bedeutet dies eine Gunst und einen persönlichen Nutzen für den Wohltäter. Darüber hinaus wird dies auch dazu beitragen, die allgemeine Erlösung herbeizuführen. Denn wir haben die Gewissheit, dass „das Überströmen der Quellen auf die Fluren das Kommen des Meisters (Maschiach) herbeiführen wird“25, und zwar in unserer eigenen Zeit, wahrlich sehr bald.

(Adaptiert aus einer Sicha gehalten an Schawuot 5718)