Liebe ist ein tolles Gefühl. Sie kann vergeben, Frieden stiften, erfreuen − einfach Sinn im Leben machen. Die Liebe zu den Geschöpfen und noch mehr die Nächstenliebe (sprich: die Liebe zu jedem Juden) ist eine große Tugend, ein wichtiger Grundsatz des Judentums, sodass sie wortwörtlich ein Gebot ist, auf welchem die ganze Thora gründet. Wie dieses Gebot wirklich aufgefasst werden soll (und praktisch umgesetzt), erklären uns die Meister der Chassidut in drei verschiedenen Graden.
Der Baal Schem Tow übertrug die Nächstenliebe auf die breite Masse des jüdisches Volkes – den einfachen Juden, der wenige Thorakenntnisse hat, die Gebote aber aus reinem Herzen erfüllt – und setzte das einfache Volk selbst über die Thoragelehrten. Er erklärte die Aussage des Talmud1, der zufolge die „Tefillin G-ttes“ das jüdische Volk seien, dass die Handtefillin (ein Zeichen für die Tat) das einfache Volk symbolisieren und die Kopftefillin (Symbol für Wissen und Weisheit) die Thoragelehrten. Und nach der Regel haben die Handtefillin beim Anlegen Vorrang.
Der engelhafte Schurke
Dadurch vermittelt uns der Baal Schem Tow, wie sehr wir auch die Einfachen des Volkes, die womöglich weder schreiben noch lesen können, zu lieben haben. Dabei handelt es sich allerdings um aufrichtige, g-ttesfürchtige Juden, wenn auch ungebildet.
Der Nachfolger des Baal Schem Tow, der Maggid von Mesritsch, öffnete der Bedeutung der Nächstenliebe ein breiteres Spektrum. Einem seiner Schüler verkündete er einst: „Lausche gut, was man gerade in den Himmeln spricht – Nächstenliebe bedeutet selbst den größten Schurken wie den edelsten Gerechten zu lieben!“2 Ein absolut revolutionärer Ausspruch über die Nächstenliebe – liebe nicht nur den Ungebildeten, der zu verachten sei, sondern selbst den größten Schurken, der gegen G-tt frevelt und den du hassen solltest! Aber damit nicht genug: deine Liebe zu ihm muss so stark sein wie die zum edelsten Gerechten! Der Maggid spricht dabei den innersten Kern des Juden an, seine g-ttliche Seele, die sowohl beim größten Zadik als auch dem schlimmsten Schurken gleich ist.
Geschwisterliebe
Wie hochgestellt diese Liebe auch sein mag, drückt sie dennoch den Unterschied zwischen dem Zadik und Schurken aus, mit der Betonung aber, dass beide gleichermaßen zu lieben sind.
Der Lehre von Rabbi Schneor Salman von Liadi zufolge3 sollte jedoch die Nächstenliebe selbst diese Grenzlinien nicht ziehen. Nächstenliebe sei Brüderliebe gleichzusetzen, und einen Bruder liebt man einfach. Ob er gut oder schlecht ist, fällt dabei gar nicht ins Auge. Er lehrte, dass das Gebot Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, wie es in unserem Wochenabschnitt vorkommt, wortwörtlich zu nehmen sei – tatsächlich wie dich selbst! Wie der Mensch sich nie aufhören wird selbst zu lieben, auch wenn er noch so viele Makel hat, da ja die Liebe alle Sünden verdeckt4, in genau demselben Maße liegt es an ihm jeden Juden zu lieben!
Ich bin Du
Wie aber kann man praktisch diese innerliche Liebe, die man nur zu sich selbst hat, auf jeden Juden übertragen? Die Lehre der Chassidut erklärt5: Erstens – die Nächstenliebe ist eine Abzweigung der G-ttesliebe. Und da die Liebe zu G-tt im Herzen jedes Juden eingebrannt ist (und man sie nur zu offenbaren braucht) – denn „Kinder (ein Teil G-ttes) seid ihr G-tt, eurem G-tt“ – besteht auch auf natürliche Weise die Nächstenliebe zu jedem Juden. Außerdem muss sich die Liebe zu G-tt auch in der Liebe zum Nächsten ausdrücken. Denn G-tt liebt jedes Seiner Kinder Israels (und verabscheut all jene, die das nicht tun). Schon allein der Liebe zu G-tt wegen muss man seinen Nächsten lieben. Nur jemand, der jeden Juden liebt, kann auch als ein wahrer G-ttesdiener gelten!
Zweitens (tiefer betrachtet) – der innerste Kern aller Juden bildet ein Ganzes („einen g-ttlichen Teil von droben“), womit die Nächstenliebe in Wirklichkeit nicht dem Nächsten gilt, sondern einem selbst, einem Teil von ihm. Das bedeutet Nächstenliebe!
(Likutej Sichot, Band 2, Seite 299)
Diskutieren Sie mit