Gerade am Pessachfest, in der Liturgie "Zeitpunkt unserer Befreiung" genannt, ist es unser Wunsch, dass jedem Juden und jeder Jüdin wahre Freiheit zuteil werde, Befreiung von Sorgen und Widerwärtigkeiten, auf geistigem wie auf materiellem Gebiete, damit sie so die tiefere Bedeutung von "Jeziat Mizrajim" (dem Auszug aus Ägypten) verstehen und G-ttes Versprechen erfüllt sehen (Exodus 3, 12): "Wenn du das Volk aus Ägypten bringst, dann werdet ihr G-tt an diesem Berge (Sinai) dienen."

Alles, was mit Tora und Mizwot zusammenhängt, ist unendlich und hat Ewigkeitswert; und das gleiche gilt für die daraus abgeleiteten Lehren, die für alle Zeiten und an allen Orten angehen und im täglichen Leben in die Praxis umgesetzt werden müssen. In noch größerem Masse gilt es für so etwas Allumfassendes wie das Fest des Auszuges aus Ägypten, eines Ereignisses, dessen wir jeden Tag eingedenk sein müssen (Deut. 16, 3 u.a.). Es ist eines der besonderen Anliegen von Pessach, dass jeder Jude die innere Fähigkeit besitzt und auch die praktische Möglichkeit hat, sich in kurzer Zeitspanne von einem Extrem in das andere zu versetzen.

Die Tora wie auch rabbinische Quellen schildern im einzelnen, wie bitter die Knechtschaft in Ägypten wirklich war, und bis zu welchem Tiefstand geistiger Verödung die versklavten Juden in jener Periode hinabgesunken waren: Sie waren geknechtet in einem Lande, aus dem auch nicht ein einziger Sklave je entkommen konnte; sie waren völlig in der Hand Pharaos, der das Blut jüdischer Kinder forderte, gänzlich verarmt und geistig wie körperlich durch schweren Frondienst gebrochen. Und dann ganz plötzlich ist Pharaos Macht gebrochen; das ganze Volk wird frei, die Sklaven von gestern schütteln die Fesseln ab und kommen mutig und würdig heraus, "mit ausgestrecktem Arme" und "mit großem Reichtum".

Abgesehen von dieser physischen Befreiung brachte ihre geistige Erlösung ebenfalls eine vollständige Umgestaltung der Verhältnisse mit sich. Sie waren bis zum 49. Grad der Unreinheit hinabgesunken, bis zum Niveau des heidnischen Götzenkultes. Dann plötzlich konnten sie G-tt "erblicken", in vollem Glanze enthüllt; und wenige Wochen später standen, sie am Fuße des Berges Sinai, womit sie den höchsten Grad von Heiligkeit, von Prophetentum erreicht hatten, und G-tt sprach zu jedem von ihnen individuell, ohne Mittelsperson, nicht einmal durch unseren Lehrer Moses, indem Er verkündete (Exodus 20, 2): "Ich bin der Ewige, dein G-tt."

Die Lehre ist höchst instruktiv: Wie niedrig auch immer der Zustand des Juden ist, persönlich wie in der Gesamtheit, ist unwesentlich; und wie düster seine Lage aus menschlicher Sicht auch erscheinen mag muss er sich doch jeden Tag an "Jeziat Mizrajim" erinnern. Das heißt: Er muss wirkungsvoll eine wahre Befreiung und Erlösung anstreben, kühn ("mit ausgestrecktem Arm") und bis zum äußersten ("mit großem Reichtum") – eine Loslösung aus allen Fesseln und Behinderungen. Damit unternimmt er seine eigene Flucht aus seinem "Mizrajim", bis er den Höhepunkt eines "Reiches von Priestern und einer heiligen Nation" erreicht.

Dabei darf es keine Unterbrechung geben, kein Zögern auf dem Wege. Man darf sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Man muss immer weiter fortschreiten, höher und höher, bis man den persönlichen Ruf hört und erlebt: "Ich bin der Ewige, dein G-tt.

Diese "Botschaft" ist besonders angebracht – sie ist dringend – in unseren Tagen, wenn Juden, als einzelne oder gruppenweise, nach einem Auswege aus geistigen Fesseln suchen, hin zu wahrer Freiheit. Dabei müssen sie, spezifisch, den Gedanken aufgeben: "Was wird der Nichtjude sagen?" Das ist der "Nichtjude" jeder Art und Sorte, wozu dann auch die "nichtjüdischen" Anstöße von Seiten fehlgehender Juden sowie der "Nichtjude" jeder Person selbst gehören: All diesen kündet das Pessachfest insbesondere: "Hört nicht auf, steigt an und an, mit ausgestrecktem Arme".

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Wenn wir das Thema von "Freiheit" weiter vertiefen (wie dies im Verlauf des ganzen Pessachfestes geschehen sollte), dann lässt sich der Gedankengang so fortführen: Es kommt nicht darauf an, genau bis zu welchem Zustand von Vollkommenheit ein Jude oder eine jüdische Gemeinschaft fortgeschritten ist. Wie immer dies auch sei, jeden Tag erneut ergeht die Aufforderung, sich die Befreiung aus Ägypten ins Gedächtnis zurückzurufen, um auf diese Weise "ein Reich von Priestern und eine heilige Nation" zu werden, dadurch dass man eine der Tora gemäße Lebensweise auf sich nimmt, "wie es geschah in den Tagen deines Auszuges aus Ägypten".

Verzweiflung ist allein bei denen zu Hause, die die Dinge mit menschlichen Augen sehen, nicht aber bei denjenigen, die mit dem Auge des Glaubens schauen.

In diesem Sinne allerdings darf es dann keine Unterbrechung geben und kein Zögern, und niemals darf man sich mit dem bereist Erreichten zufrieden geben. Man muss weiter voranschreiten, ohne Unterlass, bis man selbst einmal das Verdienst hat, den Ruf zu hören: "Ich bin der Ewige, dein G-tt."

Eines der auffallendsten Merkmale beim Auszug der Israeliten aus Ägypten war ihr absoluter Glauben an G-ttes Vorsehung und die Art und Weise, wie sie diesen Glauben kundtaten.

Man sollte sich die ausschlaggebenden Umstände genauer vergegenwärtigen: Ein ganzes Volk, Männer, Frauen und Kinder, mehrere Millionen an der Zahl, verließen bereitwillig ein fruchtbares und gedeihliches Land, ein Land überdies, dessen heidnische Gepflogenheiten schon einen spürbaren Eindruck bei den meisten von ihnen hinterlassen hatten, um sich auf eine lange und gefahrvolle Reise zu machen, ohne Vorratsmittel oder Proviant, allein auf G-ttes Wort vertrauend, wie es ihnen von Moses übermittelt wurde.

Zudem zogen sie, wie wir wissen, nicht auf dem gewohnten und kürzeren Weg durch das Land der Philister – einen Weg, auf dem man zwar kriegerische Überfälle zu erwarten hätte, der aber trotzdem viel mehr Vorzüge aufwies als ein Durchzug durch eine riesige, trostlose Wüste. Im Falle eines Krieges bestand immerhin die Möglichkeit eines Sieges; aber auch bei einer Niederlage bestand Aussicht, dass man entrinnen könnte. In einer Wüste dagegen, wo nichts Essbares wächst und es nichts zu trinken gibt, schränkt schon die Natur selbst jede Überlebenschance ein. Dennoch machten sie sich auf diesen Weg, gegen alle Regeln der Vernunft, und zwar weil Sie eben auf G-ttes Wort vertrauten.

Hinzu kommen noch andere bemerkenswerte Gesichtspunkte: Sie hatten 210 Jahre in Ägypten verbracht, einem Lande, wo die Landwirtschaft blühte und dem jede nomadische Lebensweise fremd war, wo ein fruchtbarer Boden stets vom Nil getränkt wurde, selbst bei anhaltendem ungünstigen Wetter. Mit anderen Worten: Sie gaben eine durch die natürliche Ordnung garantierte Sicherheit auf.

Warum sie dies taten, ist eine Frage, die eigentlich in jeder Generation erneut ihr Echo findet. Die säkulare Welt, im Verein mit dem Juden, der sich von den ewigen Wahrheiten des Judentums abgewandt hat, fragt den traditionellen Juden: Wie wir lebst Du in einer materialistischen Welt, in einer Gesellschaft, in der der Konkurrenzkampf wütet. Auch Du kennst ein ständiges Ringen um finanzielle Sicherheit. Wie kannst Du Dich davon ausklammern und abkapseln? Wie kannst Du Vorschriften und Gesetzen folgen, die Dich belasten und Deine Handlungsfreiheit einschränken?

Die Antwort darauf liegt im – Auszug aus Ägypten! Damals sagten sich die Israeliten ebenfalls von all dem los, das unter den vorherrschenden Umständen als vernünftig galt. Es sollte sich aber zeigen, dass der Weg, den sie einschlugen, der Weg zu einem wahren Wohlstand war, sowohl auf geistiger Ebene (sie erhielten die Tora) wie in materieller Hinsicht (sie kamen in ein Land, das mit Milch und Honig überfloss).

So ist es auch heute und immer: Dieser so vorgezeichnete Weg ist allein der jüdische Weg zu wahrhafter Glückseligkeit.