Der heutige Schabbat ist "Schabbat Haggadol", der "Große Schabbat", und er kündigt das Herannahen des Pessach-Festes an. Ein zentrales Thema beherrscht dieses Pessach-Fest, und es lautet: "Wenn dein Kind dich fragt" (Exodus 13, 14). So geht denn auch die ganze Haggada (die Erzählung vom Auszug aus Ägypten) auf das Gebot der Tora zurück: "Du sollst deinem Kinde erzählen"; das Wort "Haggada" selbst bedeutet ja "Erzählung".
Beim Seder lesen wir in der Haggada: "Die Tora spricht im Hinblick auf vier Söhne, einen weisen, einen bösen, einen einfältigen und einen, der nicht einmal zu fragen versteht". Dann zitiert die Haggada die Fragen, die von jedem dieser "Söhne" gestellt werden, und die Antwort, die wir jedem geben sollen.
Der weise Sohn erkundigt sich nach den besonderen Mizwot von Pessach, und wir sollen ihm unsererseits im Einzelnen alle Gesetze und Gebräuche des Festes darstellen. Der böse Sohn fragt: "Was bedeutet dieser Dienst für euch?". Mit den Worten "für euch" schließt er sich selbst aus der jüdischen Gemeinschaft aus, und wir sind angehalten, ihm scharf zu erwidern. Der einfältige Sohn fragt bloß: "Was ist dies?. In unserer Antwort sollen wir ihm vom Auszuge aus Ägypten erzählen. Was das Kind betrifft, das nicht zu fragen versteht, müssen wir von uns aus mit ihm zu reden beginnen, wie es die Tora ausdrückt: "Du sollst deinem Kinde an jenem Tage folgendes sagen: 'Um dessenwillen hat G-tt für mich gehandelt, als ich aus Ägypten zog'" (Exodus 13, 8).
Wenn somit die vier Söhne in verschiedenartiger Weise auf den Seder reagieren, haben sie doch eins gemeinsam: sie sind alle beim Seder zugegen. Selbst der "böse" Sohn ist anwesend, und er zeigt ein zwar rebellisches, aber dennoch aktives Interesse in den Vorgängen im jüdischen Leben um ihn herum. Diese Tatsache berechtigt uns zumindest zu der Hoffnung, dass eines Tages auch der "Böse" weise wird, und dass aus allen jüdischen Kindern; die dem Seder beiwohnen, einmal gewissenhafte und positive Juden werden.
Leider jedoch gibt es in unserem Zeitalter der Verwirrung und des spirituellen Bankrottes noch einen anderen Typ von jüdischem Kind – einen "fünften Sohn", der dadurch auffällt, dass er beim Seder überhaupt fehlt; es ist dies der Sohn, dem jegliches Interesse an Tora und Mizwot, an unseren Gesetzen und Gebräuchen abgeht, dem der "Seder schel-Pessach" überhaupt unbekannt ist, und der daher nichts weiß über den Auszug aus Ägypten und die darauf folgende Offenbarung am Sinai.
Gleichzeitig mit dieser Feststellung ist uns eine äußerst ernste Aufgabe auferlegt, auf die wir uns schon lange vor Pessach und der Sedernacht konzentrieren sollten; denn nicht ein einziges jüdisches Kind darf "aufgegeben" werden. In unserer Zeit ist es unsere unerlässliche Pflicht, jede nur mögliche Anstrengung zu machen, um in der jungen Generation (wie natürlich auch bei denjenigen älteren Menschen, denen jetzt noch die Reife zu tieferem Verstehen fehlt) ein besseres Verständnis für die Werte von Tora und Jüdischkeit zu erwecken, echte und aufrichtige Jüdischkeit, statt eines verdrehten, kompromittierten, verwässerten "Jude-Seins", was immer auch sein Aushängeschild oder Etikett sein mag. Zusammen mit einem so angebahnten Verständnis wird dann in ihnen die Erkenntnis erwachen, dass wahre Jüdischkeit allein das Fortbestehen der Einzelperson, eines jeden Juden, zu jeder Zeit, überall und in allen Lagen, gewährleisten kann.
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Dazu muss die schwerwiegende Frage gestellt werden: Worin liegt die Ursache dieses leider nur zu häufig auftretenden Falles des "fünften Sohnes"?
Der "fünfte Sohn" ist das Produkt einer verfehlten Psychologie, einer insgesamt irrigen Methode, der eine Anzahl neuer Einwanderer verfallen sind, als sie sich plötzlich in eine ungewohnte, neuartige Umgebung versetzt fanden. Nachdem sie sich in einer kleinen Minderheit und sich gewissen sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten ausgesetzt sahen, kam in manchen Eltern die völlig falsche Idee auf (die sie dann auch ihren Kindern übertrugen), dass das einzig richtige Verfahren auf dem Wege zur Überwindung dieser Schwierigkeiten darin liege, sich möglichst schnell an die neue Umwelt zu assimilieren, und zwar dadurch, dass sie die Tradition ihrer Väter und die jüdische Lebensweise aufgaben. Und als manche Eltern feststellen mussten, dass dieser Vorgang oft verdrießlich war und zu vielerlei inneren Konflikten führte, beschlossen sie, dass ihren Kindern ein derartiger Konflikt überhaupt erspart bleiben müsse. Daher gaben sie ihren Kindern einfach keinerlei jüdische Ausbildung oder Erziehung.
Um diesen Abfall von ihrer Religion zu rechtfertigen und ihr – immerhin – schlechtes Gewissen zu beruhigen, sahen sie es als notwendig an, für ihr Verhalten eine "Vernunftsbegründung" zu erdenken. Sie suchten sich selbst, und auch ihre Kinder, davon zu überzeugen, dass der jüdische Lebensweg, mit seiner unerlässlichen Verpflichtung zu Tora und Mizwot, mit ihrer neuen Lebensweise unvereinbar wäre. Sie suchten – und folglich "fanden" – Mängel in jeder jüdisch ausgerichteten Lebensführung, wohingegen ihnen in der nichtjüdischen Welt alles immer nur gut und schön erschien.
Mit einer solchen Einstellung hofften diese Eltern die Existenz und den Fortbestand ihrer Kinder in der neuen Umgebung sicherzustellen. Aber was für eine Existenz ist denn das, wenn alle spirituellen und geheiligten Werte gegen materielle Dinge eingehandelt werden? Was kann ein Fortbestand bedeuten, wenn dabei das Seelenleben um der Annehmlichkeiten des Körpers willen geopfert wird?
Es war die tragische Folge dieser gänzlich verfehlten Methode, dass Tausende und aber Tausende von Juden von ihrer Lebensquelle, von ihrem wahren Glauben und von der jüdischen Gemeinschaft als solcher abgeschnitten wurden. Jedes spirituellen Inhaltes beraubt, ist eine Generation von Kindern aufgewachsen, die nicht mehr zu den "vier Söhnen" der Haggada gezählt werden können; sie fallen nicht einmal in die Kategorie des "bösen" Sohnes. Sie sind der jüdischen Gemeinschaft und echter Jüdischkeit fast vollständig verloren gegangen.
Der Auszug aus Ägypten und das Pessachfest mahnen uns eindringlich, dass jeder Versuch, die Umwelt nachzuahmen, nicht zu Erlösung, Fortbestand und Freiheit führt. Diese erstehen vielmehr – umgekehrt – aus zuverlässiger Treue zu unseren Traditionen und der Tora-Lebensweise. Unsere Vorfahren in Ägypten waren eine kleine Minderheit und existierten in den schwierigsten Verhältnissen. Dennoch bewahrten sie ihre Identität, und sie hielten zäh, stolz und würdevoll an ihrer eigenen Weltanschauung, ihren Traditionen, ihrer Identität fest. Und ihr Fortbestehen wurde dadurch gesichert, dass sie eben diesen Kurs einschlugen; und daraus sprang schließlich ihre Befreiung aus der Versklavung, der physischen wie der spirituellen.
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