Im jüdischen Kalender gibt es zwei Ausgangspunkte, einerseits den Monat Tischrei, mit Rosch Haschana, Beginn eines neuen Jahres, und andererseits den Monat Nissan, mit Pessach, als den ersten der Monate.

Der Tischrei ist der natürliche bedingte Anfang, weil am Rosch Haschana die Welt geschaffen worden ist (s. Talmud, Rosch Haschana, Anfang); und so nennen wir in den Gebeten von Rosch Haschana diesen "Beginn Deiner Werke" (vgl. Talmud, Baba Mezia 106b). Der Nissan dagegen weist auf das Wunderbare hin, auf den Teil des jüdischen Lebens, der über der Natur steht; denn Pessach und der damit zusammenhängende Auszug aus Ägypten, mit Nissan verbunden, waren "Zeichen und Wunder".

Nun wohnen der Phase des Lebens, die man gemeinhin als vom Wunder, vom Übernatürlichen geprägt bezeichnet, selbst zwei verschiedene Aspekte inne: Einmal gibt es da klare, offensichtliche Wunder, die der Natur trotzen, wie zum Beispiel diejenigen, die mit Israels Auszug aus Ägypten zusammenhängen – die zehn Plagen, die Spaltung des Schilfmeeres wie überhaupt die tatsächliche Befreiung an sich, durch die ein ganzes Volk nach Hunderten von Jahren von Versklavung frei wurde, in einem Lande, aus dem Sklaven vordem niemals entkommen waren (Genesis 15, 13, zusammen mit Talmud, Sanhedrin 91a, und Schmot Rabba 1, 8).

Zum zweiten aber gibt es dann auch Wunder, welche als solche sich in natürlichen Vorgängen oder natürlichen Ereignissen manifestieren; ein solches ist das Wunder von Purim. Esther wurde Königin, Mordechai war ein Berater des Königs und bewahrte ihn vor einem versuchten Attentat. Wenn auch all diese Vorkommnisse, jedes für sich allein, nicht besonders bemerkenswert sind, lässt sich doch bei näherem Hinblick feststellen, dass jedes dieser Ereignisse von Purim ein "Wunder" darstellte, und ganz gewiss bestand ein Wunder darin, dass sie zusammenfielen und in genau dem richtigen Augenblick richtig aufeinander folgten.

Das "naturgebundene" Leben seinerseits verläuft in einer Welt von Ursache und Wirkung, von Wahrscheinlichkeit, von Gesetzmäßigkeit. Darin selbst lassen sich wieder zwei verschiedene Phasen erkennen: Erst einmal gibt es da viele Dinge im Leben, die absolut natürlich erscheinen: wie der Zyklus in der Pflanzenwelt und der regelmäßige Ablauf der Jahreszeiten, also die Reihenfolge von Anpflanzen, Wachsen und schließlichem Ernten. Dennoch ist uns bewusst, dass auch hier G-ttes Vorsehung tätig ist, dadurch, dass mehrere und verschiedene Naturkräfte mit ins Spiel gebracht werden – wie Wind, Regen und Sonne, jede Naturkraft zu ihrer rechten Zeit. Wir verstehen, dass das Anpflanzen selbst schon Glaube und Vertrauen auf G-tt voraussetzt (s. Tossafot zu Schabbat 31a).

In der zweiten Phase im Leben der Natur zeigt sich noch viel deutlicher der Einfluss G-ttlicher Vorsehung, dort nämlich, wo Ergebnisse nicht von Planung, Gewandtheit oder fleißiger Arbeit abhängen, sondern vom (scheinbaren) Zufall oder von "Glück", wie zum Beispiel bei der Entdeckung eines Schatzes. Die Tora besteht darauf, dass auch in solchen Umständen diese "Glück" auf G-ttes Vorsehung beruht und Ausdruck der Segnung G-ttes ist.

Aber all dies hat seinen Anfangspunkt im Nissan. Mit dem Befehl, dass der Nissan, Monat der Wunder, zum ersten oder "Haupt" der Monate bestimmt sei, betont die Tora eines: In allen Monaten das Jahr hindurch – ob wir da nun offensichtliche Wunder erleben, oder Wunder in der Gestalt natürlicher Ereignisse, oder ungewöhnliche Erfolge, oder den scheinbar unveränderlichen Zyklus der Natur – müssen wir uns bewusst bleiben, dass der Ewige Schöpfer der Welt ihr einziger Herr und Meister ist (s. Sefer Hachinuch, Mizwa 21), der jedes kleinste Detail steuert und anordnet, in der großen Welt ringsum wie im Mikrokosmos – das ist in jeder einzelnen Person.