Mit dem Herannahen des Pessach-Festes ist es am Platze, die Haggada zu überdenken. Eine der bekanntesten Stellen der Erzählung ist: "Die Tora erwähnt vier Söhne, einen weisen, einen bösen, einen einfältigen und einen, der nicht einmal eine Frage zu stellen weiß".
Beim ersten Blick erscheint diese Stelle zwar ganz klar, jedoch löst die Reihenfolge, in der die Haggada die Söhne aufzählt, einiges Erstaunen aus. Sie hätten doch in der Reihenfolge gebracht werden können, in der sie in der Tora angedeutet sind: Böser Sohn; einfältiger Sohn; Sohn, der nicht zu fragen versteht; und schließlich der weise Sohn. Oder wiederum, die Söhne hätten ihrem Wert gemäß eingeordnet werden können: Weiser; einfältiger; der nicht zu fragen vermag; und schließlich der böse. Was ist der tiefere Grund für eine Reihenfolge, die den bösen Sohn bevorzugt und gleich neben den weisen Sohn stellt?
Hinsichtlich des individuellen Juden betonen die Weisen des Talmud: "Wenn er auch sündigen mag, bleibt er doch ein Jisrael" (Sanhedrin 44a). Die Wahl ihrer Worte ist äußerst bezeichnend, denn der Ausdruck "Jisrael" bedeutet mehr als einfach "Jude". "Jisrael" ist ein Akrostichon für "Jesch Schischim Ribba'e Otijot Latora – es gibt sechs hunderttausend Buchstaben in der Tora". Dem gegenüber waren 600.000 Juden bei der Gesetzgebung am Sinai anwesend. Damit wird jeder einzelne Jude als stellvertretend für einen Buchstaben der Tora angesehen.
Wenn nur ein einziger Buchstabe in einem Sefer Tora fehlt, ist damit die Vollkommenheit aller Buchstaben beeinträchtigt (siehe Sohar III, S. 71a; Tikkune Sohar, Tikkun 21; Responsa Noda Bi’Jehuda 2. Ausgabe, Orach Chajim 9; Awne Nezer, Jore Dea II, 371). Ein unvollständiges Sefer Tora, wenn auch nur ein Buchstabe fehlt, ist für die Tora-Vorlesung in der Synagoge unbrauchbar, bis es ausgebessert und wieder "vollkommen" gemacht ist. Ganz ähnlich: wenn ein einziger Jude aus dem Volke fehlt, wird das Volk als unvollkommen betrachtet, bis das betreffende Individuum "ausgebessert" und wieder ganz gemacht ist.
Die Heiligkeit des gesamten jüdischen Volkes hängt von jedem einzelnen Mitgliede ab. Selbst der "böse" oder der "rebellische" Sohn steht für einen Buchstaben der Tora und ist für ihre Vollkommenheit unersetzlich. In der Haggada wird er neben den weisen Sohn gestellt, um unsere Verantwortung für jede Einzelperson hervorzuheben. Es ist unsere Pflicht, seinen Charakter zu verbessern und seinen jüdischen "Kern" herauszuschälen. Diese unsere Verantwortung für unsere rebellischen Söhne ist nicht um eine Haaresbreite geringer als unsere Verpflichtung unseren einfältigen Söhnen, unseren unwissenden Söhnen oder unseren weisen Söhnen gegenüber.
Der jüdische "Kern" innerhalb jeder Einzelperson ist unzerstörbar. Wie der frühere Lubawitscher Rebbe es einmal erläutert hat (Likute Dibburim, S. 844): "Es ist bezeichnend, dass die Haggada bei den vier Söhnen jedes Mal des Wort 'ein' wiederholt: 'Die Tora erwähnt vier Söhne: einer weise, einer böse, einer einfältig und einer, der nicht zu fragen versteht!' In jedem Sohne unseres Volkes, sei er weise oder böse, ist ein Anteil des Einen G-ttes lebendig, des Haschem Echad, des Funkens der G-ttlichkeit."
Israel kann mit einem Gebäude verglichen werden, das mehrere Stockwerke hat. Jedes Stockwerk entspricht einem anderen Niveau von Einzelperson. Der Baumeister mag das Gebäude aufstocken wollen. Wenn er nur den obersten Stock erhöht, dann ist nur dieser oberste Stock allein betroffen. Wenn er seine Maschinen und Kräne benutzt, um die mittleren Stockwerke zu erhöhen, so werden dabei sowohl die mittleren wie auch die oberen Stockwerke betroffen. Um aber das gesamte Gebäude höher zu machen, muss er damit beginnen, das Untergeschoss zu erhöhen. Nur wenn wir mit den untersten Rängen unseres Volkes einen Anfang machen, können wir seine Gesamtstruktur erhöhen.
Der frühere Lubawitscher Rebbe, Rabbi Josef Isaak Schneersohn. s.A., legte besonders seinen nächsten und gelehrtesten Anhängern nahe, sich mit Juden anzufreunden, die von Jüdischkeit weit entfernt sind. Falls nötig, erwartete der Rebbe von ihnen, dass sie diesen Menschen selbst solch elementare Dinge beibringen wie das Alef-Bet (das hebräische Alphabet). Alef-Bet im wörtlichen Sinne und Alef-Bet im übertragenen Sinne: die ersten Schritte, um zu G-tt zurückzukehren und die Gebote zu erfüllen. Warum fand der Rebbe es am Platze, dazu seine gelehrtesten Chassidim anzuhalten? Es gab andere von geringerem Können und kleinerer Statur, die für derartige Erziehungsaufgaben zur Verfügung standen. Um das Alef-Bet zu lehren, dafür bedarf es keiner großen Gelehrsamkeit. Andererseits hätten die nächsten Anhänger des Rebben ihre kostbare Zeit zur Selbstverbesserung benutzen können, zur Vertiefung ihr es Tora-Studiums, in Gebeten und in der genauesten Einhaltung der Mizwot.
Aber ganz absichtlich wählte der Rebbe seine größten Chassidim für die Aufgabe, die Unwissenden und die Entfremdeten zu lehren; denn es ist nur eine Person von größter Statur, ein weiser Sohn, der einen andauernden Einfluss auf die niedrigste Art von Person – einen bösen Sohn – ausüben kann: es bedarf der Strahlen eines ganz starken Lichtes, um in die dunkelsten Ecken hineinzuleuchten.
Zwei Lehren, eine für den bösen und eine für den weisen Sohn, können aus dem Obigen entnommen werden:
Der "böse Sohn" der Judenheit sollte den Mut nicht verlieren; selbst für ihn besteht Hoffnung. G-tt schickt ihm einen "weisen Sohn", um ihn zu beeinflussen und auf bessere Wege zu bringen. Das einzige, das vom "bösen Sohn" verlangt wird, ist Interesse und die Bereitschaft, den "weisen Sohn" mit Demut und Achtung anzuhören.
Auf seiner Seite soll der "weise Sohn" nicht denken: "Was für eine Verantwortung trage ich für den bösen Sohn? Soll er in seiner G-ttlosigkeit untergehen!" Eine derartige Zurückhaltung und Gleichgültigkeit sind dem Judentum fremd, denn alle Juden sind für sich gegenseitig verantwortlich (Sanhedrin 27b; Schawuot 39a). Wir müssen uns bemühen, jeden einzelnen unseres Volkes, selbst den rebellischen, der Tora näherzubringen. In seinem Umgang mit dem entfremdeten Sohn muss der "weise Sohn" jedoch aufpassen, dass er auf ihn einen positiven Einfluss ausübt und nicht, G-tt behüte, statt dessen von ihm beeinflusst wird.
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