von Mordechai Kaler
Ich bin ein 16-jähriger Student an der „Jeschiwa of Greater Washington“ in Maryland, USA. Vergangenen Sommer beschloss ich, in den Ferien als Freiwilliger in einem Jüdischen Altersheim in meiner Nähe zu arbeiten.
Zu meinen Aufgaben gehörte es, den Bewohnern des Heimes die Teilnahme an den täglichen Gebeten in der Synagoge anzubieten und ihnen gegebenenfalls dabei zu helfen. Die meisten Bewohner nahmen das Angebot immer gerne an; selbst diejenigen, die nicht teilnehmen wollten, erklärten mir das auf angenehme Weise.
Ein bestimmter Bewohner aber geriet jedesmal in Wut, wenn man ihn höflich danach fragte, ja er beleidigte sogar einen freiwilligen Helfer. „Wir sind da, um den Bewohnern zu helfen”, sagte ich ihm respektvoll, aber bestimmt, als ich das nächste Mal in seinem Zimmer war, „es gibt keinen Grund, sie zu beschimpfen.” Der Mann deutete mir, mich zu setzen. „Ich möchte Dir eine Geschichte erzählen.“
Er war in einer prominenten religiösen Familie aufgewachsen. Seine gesamte Familie war bald nach Kriegsbeginn ermordet worden, nur er und sein Vater waren jetzt zusammen im KZ. Jemand in ihrem Block hielt ein Tefillin schel Rosch - Tefillin für den Kopf - versteckt. Jeden Morgen wechselten sich die Männer ab, um die Tefillin schnell anzulegen, und es sei es auch nur für eine Sekunde.
„Am Tag vor meiner Bar Mizwa hörte mein Vater davon, dass ein Mann im Lager ein gesamtes Tefillin-Set (die Tefillin für den Kopf und die Tefillin für den Arm) habe. Am Abend ging mein Vater auf die Suche nach diesem Mann, um die Tefillin für meine Bar Mizwa zu bekommen. Auf dem Weg zurück wurde er ertappt und erschossen - direkt vor meinen Augen. Irgendwie gelang es mir, die Tefillin an mich zu nehmen und zu verstecken.”
Der Bewohner schwieg für einen Moment und dann sagte er: „Wie kann man zu einem G-tt beten, der so etwas zulässt? Einen Vater vor seinem Sohn zu erschießen, während er versucht, Tefillin für seinen Sohn zu bringen?” Er wandte sich an mich: „Geh’ dort hinüber, öffne die Schublade.” Ich öffnete die Lade und sah einen alten, schwarzen Beutel. „Schau hinein.” sagte der Mann „Das ist das Paar Tefillin, für das mein Vater gestorben ist. Das ist das letzte, was mir mein Vater gegeben hat.”
Ich verließ ihn ein paar Minuten später, sprachlos. Ich ging nach Hause, aß kein Abendessen und konnte während dieser Nacht kaum schlafen. Aber als ich aufwachte, legte ich meine Tefillin an, sprach die Gebete und ging ins Jüdische Altersheim.
Während der Arbeit mied ich den Stock des Mannes völlig. Dann wurde ich informiert, dass man in der Synagoge einen Minjan brauche. Ich fragte alle möglichen Leute, aber niemand konnte teilnehmen. Ich hatte keine andere Wahl, als den Mann zu fragen. Der Mann war in seinem Zimmer. Ich fragte ihn, ob er vielleicht in die Synagoge kommen könnte, jemand möchte Kaddisch sagen. Ich erwartete ein klares „Nein”, aber er sagte: „Wenn ich gehe, wirst Du mich dann in Ruhe lassen?” Ich sagte: „Ich werde Sie in Ruhe lassen.” Ich weiss nicht, warum ich ausgerechnet jetzt die Frage stellte, ob er seine Tefillin mitbringen wolle. Ich wollte mich schon entschuldigen, da sagte er: „Wenn ich sie bringe, wirst Du mich dann in Ruhe lassen?” Ich nickte und sagte leise:
„Ja.”
Er nahm seine Tefillin und ich brachte ihn im Rollstuhl in die Synagoge. Ich zeigte ihm, wie man Tefillin anlegt und ging dann, um ein paar andere Arbeiten zu erledigen. Als ich nach dem Gebet zurückkam, war die einzige anwesende Person in der Synagoge der Bewohner, den ich gebracht hatte. Tränen liefen ihm über die Wangen, aber er schien nicht traurig. Er konnte seinen Blick nicht von den Tefillin an seinem Arm wenden. Er sagte mir, dass er fühle, als sei sein Vater wieder bei ihm.
Jeden Morgen danach wartete er schon auf mich, wenn ich aus dem Aufzug kam, die Tefillin in der Hand, bereit zum Gebet. Eines Morgens suchte ich vergeblich nach ihm, bis mir eine Krankenschwester mitteilte, dass er vor kurzem ins Krankenhaus eingeliefert worden und dort verstorben sei. Einige Zeit später traf ich die Tochter des Mannes. Sie erzählte mir, dass er selbst im Krankenhaus noch einmal beten und seine Teflin anlegen wollte. „Du hast ihn wirklich gerettet und seine letzten Augenblicke angenehmer gemacht.” sagte sie. Wir wissen nie, welchen Einfluss wir auf andere Menschen haben. Aber eines scheint klar: Jede Tat zählt.
ב"ה
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