Ich bin Notfallseelsorger in Chicago. Eines Montags rief mich eine Klinik an und bat mich, mir einen Patienten in den Neunzigern anzusehen, dem es schlecht ging. Die Ärzte hatten seinen Kindern gesagt, der Tod stehe unmittelbar bevor.

Als ich ankam, reagierte der Patient nicht mehr. Ich stand neben seinem Bett und sprach das Schma Jisrael Gebet und Psalmen. Der Sohn, der von außerhalb gekommen war, wollte unbedingt mit einem Rabbiner sprechen. Auch eine Enkelin war anwesend. Wir setzten uns in die Halle, und ich hoffte, ihm Hoffnung machen und seinen Glauben in dieser schweren Zeit stärken zu können.

Der Sohn berichtete, vor ein paar Tagen habe sein Vater eine Bar Mizwa gewünscht, aber er wisse nicht, wie er ihm diesen Wunsch erfüllen solle. Ich fragte, wie sein Vater seine Bar Mizwa feiern wolle, und er antwortet: „Er will Tefillin tragen.“

Später erfuhr ich, dass der Sterbende sich sein Leben lang geweigert hatte, in die Synagoge zu gehen, und dass er nie Tefillin angelegt hatte. Jetzt, kurz vor seinem Tod, wollte er Tefillin anlegen und „ein Bar Mizwa werden“.

Der Sohn wusste nicht, ob sein Vater immer noch „der alte Zyniker“ war oder ob er plötzlich gläubig geworden war. Erst als sein Vater seine Wünsche jeden Tag geäußert hatte, beschloss er, einen Rabbiner zu rufen und die Bar Mizwa seines Vaters zu feiern.

„Ich kann Ihrem Vater die Tefillin nicht anlegen,“ erklärte ich, „Es ist dunkel, und die Tefillin werden nur am Tag getragen. Aber wenn Ihr Vater darauf besteht, komme ich morgen früh gerne wieder.“ Als der Sohn mir mitteilte, sein Vater sei gelegentlich bei Bewusstsein, hoffte ich, dass er es auch am folgenden Morgen sein werde. Wir vereinbarten, dass ich den Sohn um halb sieben anrufen und mich nach dem Zustand des Vaters erkundigen würde.

Am nächsten Morgen bat mich der Sohn, in die Klinik zu kommen, weil sei Vater bei Bewusstsein sei. Allerdings tobte am nächsten Tag ein riesiger Wirbelsturm in Chicago. Statt zehn Minuten brauchte ich sechzig, da ich durch einen Schneesturm fuhr. Jede Minute kam mir wie eine Stunde vor, denn ich wusste ja nicht, wie es dem Patienten ging. Aber ich hoffte, er werde nach meiner Ankunft noch ansprechbar sein.

Als ich endlich eintraf, hellte sich das Gesicht des Kranken auf. Ich fragte ihn, ob er immer noch ein Bar Mizwa werden wolle, und er bejahte. „Möchten Sie auch Tefillin tragen?“, fragte ich. Wieder ein Ja.

Mit großer Mühe legte er die Tefillin an. Er hatte starke Schmerzen, und es war enorm schwierig, den Arm zu heben. Als ich sah, wie er litt, fragte ich erneut: „Wollen Sie wirklich weitermachen?“ Er bestand darauf.

Dann sprach er mit mir das Schma Jisrael und beendete den ersten Vers. Nun sangen alle Anwesenden „Siman tow u-masal tow.“ Der Kranke lächelte vor Freude übers ganze Gesicht.

Ich kann die Szene und die Reaktion der Ärzte und Schwestern gar nicht beschreiben. Später an diesem Nachmittag sagte der alte Herr zu seinem Sohn: „Jetzt bin ich ein Bar Mizwa.“ Das waren seine letzten Worte.

Vierzig Minuten später starb er. Die Pflegenden sagten, so etwas hätten sie nie zuvor erlebt. Ich habe in den vergangenen 30 Jahren Zehntausende von Patienten besucht, und nie ein ergreifenderes Erlebnis gehabt.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von www.chicagomitzvahcampaign.com