Wie andere Völker ihre Nationen über Grenzen definieren, definieren wir Juden uns über eine Geschichte in der Zeit. Jede Nuance jüdischer Weisheit kommt in Form dieser Geschichte, alles was wir tun hängt damit zusammen. Nichts - nicht unsere Gebote, unsere Gewohnheiten, unsere Empörung oder Leidenschaft kann außerhalb dieser Erzählung begriffen werden.

Und was ist diese Geschichte? Es ist jene, die wir unseren Kindern an Pessach erzählen. "Einst waren wir Sklaven, dann gab G-tt uns die Freiheit". "Jetzt sind wir Sklaven, nächstes Jahr werden wir frei sein." Es ist die Geschichte der Erlösung. Eine Geschichte, die sich noch erfüllen muss. Eine Geschichte, bei der wir in jedem Moment die Erfüllung erleben können.

Was passiert, wenn der Jude seine Geschichte verliert? Er ist immer noch ein Jude, aber er ist heimatlos. Und wenn das gesamte jüdische Volk - G-tt verhüt - seine Geschichte verlieren würde - selbst wenn wir in unserem eigenen Land, mit unserer eigenen Regierung wären - so wären wir eine heimatlose Nation. Deshalb haben wir das Exil überlebt: weil wir es nie wahrhaftig betreten haben. Wir wussten immer, woher wir kamen und wohin wir wieder gehen werden, deshalb waren wir auf eine bestimmte Art immer dort. Denn wir hatten immer die Geschichte.

Aber es gehört mehr zu der Geschichte als Überleben. Die Geschichte macht das Leben real.

Nichts ist realer als die Geschichte. Bevor die Welt erschaffen wurde, hatte G-tt die Geschichte im Sinn. Er schätzte die Geschichte so sehr, dass Er eine Welt erschuf, in der sie sich entfalten könnte. Das ist der Grund, warum Sie die Wahrheit haben, wenn sie an der Geschichte festhalten - wenn Sie die Geschichte aber für einfache Fakten verlassen, so erhalten Sie eine leere Schale, eine Welt, die es niemals gab. Denn die Welt und all ihre Fakten sind bedeutungslos - unzählige Welten hätten dieselbe Geschichte erzählen können. Die Geschichte ist alles. Die Geschichte ist die Bedeutunng hinter allen Dingen.

Denken Sie an die Geschichten, die wir jeden Tag erschaffen: so wie die Staaten sich durch unsichtbare Grenzen formieren, so formiert sich unsere Realität nicht durch Dinge, die wir sehen, sondern durch die Geschichten, die wir darüber erzählen. Sie sind unser liebster Zeitvertreib, die Besessenheit eines jeden Menschen. Wir stehen am Wasserkühler und schaffen aus zerstreuten Fragmenten Geschichten füreinander. Was immer wir sehen, was immer wir hören - unser Verstand macht sich sogleich ans Werk und bastelt alle Phänomene zu der Geschichte zusammen, die wir gerade erschaffen haben. Ohne die Geschichte sind es nur aufeinander folgende bedeutungslose Ereignisse. Das ist der Punkt der Geschichte, die wir erzählen: sie bietet Bedeutung. Ohne Bedeutung sind wir kaum Mensch. Ohne Bedeutung gibt es nichts.

So ist das mit unseren menschlichen Schöpfungen. Um wieviel mehr ist es dann mit der Geschichte des Schöpfers aller Dinge? Es gibt wirklich nichts außer Seiner Geschichte.

Dennoch gibt es mehr: die Geschichte der Kraft.

Die Geschichte lehrt uns, dass Eisen-Mauern zerbrochen, Ketten zerrissen, die Dunkelheit zerschlagen und Unterdrücker entmachtet werden. Wir erscheinen nur deshalb kleiner als das große Monster der Welt, das uns unter seinen Füßen zerquetscht,um die Geschichte spannender zu machen. Wir scheinen nur deshalb Opfer zu sein, damit das Blatt sich wendet. Wenn wir Sklaven sind, dann nur, um Meister zu werden.

In der Geschichte ist das Böse eine Krankheit, die wir heilen müssen; die Unterdrückung ist eine Störung, die es zu beheben gilt; jedes ausgeübte Gebot ist eine Verwandlung, ein weiterer Schritt aus der Dunkelheit ins Licht.

Ohne die Geschichte sind wir klein, Opfer, Sklaven. Das Böse ist böse, die Unterdrückung ist der Status quo, Gebote sind altmodische Rituale und die Dunkelheit wird immer wiederkehren. "Wir waren Sklaven in Ägypten" und dort endet es. Wir schauen zurück und sehen, wie sie uns töteten. Wir schauen in die Gegenwart und sehen, wie sie uns hassen. Wir schauen in die Zukunft und sehen uns überhaupt nicht mehr. Wenn es keine Geschichte gibt, dann können wir alle gut und nett sein - aber wir sind unfähig, etwas zu verändern. Die Welt ist groß und wir sind klein. Selbst wenn wir unser eigenes Land haben, so müssen wir uns ihnen unterwerfen. Ohne die Geschichte sind wir immer noch Sklaven des Pharao in Ägypten.

Kann ein Säbelzahntiger ohne Zahn ein Säbelzahntiger sein? Natürlich kann er. Aber was würde er mit seinem Leben anstellen? Er könnte irgendwo auf dem Hofe von jemandem als Haustier leben. Sie würden jedem erzählen: "dies ist ein Säbelzahntiger, er hat nur seinen Zahn verloren". Man würde ihm täglich vorgekaute Stücke Fleisch vorwerfen. Er würde weiterleben, so dass die Leute sagen könnten: "siehe, der Säbelzahntiger hat wirklich existiert".

So kannst auch du ein guter Jude sein und unser Erbe und unsere Gebräuche erhalten. Du kannst aber auch dieses Relikt der Vergangenheit sein, dass nur existiert, weil es gestern existierte. Ein harmloser, geschlagener, impotenter, alter Tiger.

Oder du lebst die Geschichte und stellst dich dem Monster, wie David sich Goliat stellte, wie Moses Pharao herausforderte, wie Abraham die ganze Welt herausforderte. Das Monster aber wird fallen und du wirst der Held sein, so sagt es die Geschichte.

Jetzt verstehst du auch, warum wir in unserer Zeit die Erfüllung dieser Geschichte feiern müssen, selbst bevor sie erfüllt ist. Jetzt, wo wir die letzten Seiten des Buches erreicht haben. Das einzige, was uns jetzt noch aufhalten kann, ist wenn wir vergessen, dass es diese Geschichte gibt.

Der Baal Schem Tow hat am letzten Tag des Pessachfestes drei Mahlzeiten gegessen. Das dritte Mahl nannte er "Moschiach's Festmahl". Der letzte Tag von Pessach ist deshalb der Tag des Festmahls des Moschiach, weil an ihm der Glanz des Lichtes des Moschiach offen strahlt.

Im Jahre 5666 (1906) wurde an Pessach ein neuer Brauch in die Jeschiwa von Lubawitsch eingeführt: die Studenten aßen gemeinsam das Pessachmahl im Lehrsaal. 310 Studenten saßen an 18 Tischen. Der Rebbe aß gemeinsam mit den Jeschiwa-Studenten das Festmahl. Er befahl, dass alle Studenten vier Becher Wein bekämen und sagte: "dies ist das Festmahl des Moschiach." — Hajom Jom