Am Pessachabend, während des Seders, sind wir einer ganzen Reihe Formen, Symbolen, komplizierten Ritualen und Gebräuchen sowie verschiedener Abschnitte jüdischer geschichte ausgesetzt.

Dieser Vielfalt liegt eine bedeutende Idee zugrunde, die die verschiedenen Teile des Seders in ein Ganzes verbinden: "Einst waren wir Sklaven - jetzt sind wir frei."

Am Pessachabend wird dieser Freiheitsgedanken in der Haggada durch rituelle und symbolische Taten, durch Poesie und durch die dort herrschende Atmosphäre des Abends zum Ausdruck gebracht. Die Haggada ist nicht einfach nur eine philosophische Abhandlung, aber dennoch werden profunde Ideen auf die unkomplizierteste Weise dargestellt, durch simple Worte und Taten. Die Befeutung dieser Taten ist schwungvoll und ergreifend, sie sucht sich - bewusst oder unbewusst - ihren Weg in all jene Seelen, die daran teilhaben.

Freiheit und Sklaverei scheinen einfache Gegensätze zu sein; jeder durch die Abwesenheit des anderen definierbar: Sklaverei = Fehlen der Freiheit, Freiheit = Fehlen der Sklaverei. Aber jeder dieser Begriffe muss unabhängig vom Verhältnis gegenüber dem anderen verstanden werden.

Das Loswerden der Fesseln bedeutet nicht, dass man zwangsläufig einen Zustand der Freiheit erlangt hat. Sklaverei ist ein Zustand, in dem man immer dem Willen eines anderen ausgesetzt ist. Die Freiheit ist auf der anderen Seite die Fähigkeit, den eigenen unabhängigen Willen zu haben und dementsprechend zu handeln.

Derjenige, der keinen eigenen Willen hat wird nicht frei, wenn er ungebunden ist: er ist einfach nur ein Sklave ohne Herrn oder auf ein Volk bezogen jene, die vom Lehnsherrn verlassen wurden.

Zwischen dem Aufhören, ein Sklave zu sein und dem Erlangen von Freiheit muss derjenige eine Zwischenphase absolvieren, ohne die er nicht wahrhaft frei sein kann - er muss selbst innere Qualitäten entwickeln.

Das Wunder des Auszugs war nicht durch den Auszug aus dem Hause der Versklavung selbst vollendet - sie mussten sich entwickeln, um ein wahrhaft freies Volk zu werden, anstelle von weggelaufenen Sklaven.

Der Augenblick, an dem sie am Ufer des Roten Meeres standen und von der Armee des Pharao verfolgt wurden, wurde vom mittelalterlichen Kommentator Ibn Esra wie folgt beschrieben: die Kinder Israel konnten nicht einmal an irgendeine Form des Widerstandes gegen den Pharao denken, denn sie wurden in der Sklaverei aufgezogen und sie waren es so gewöhnt, dass ihre unterwürfige Haltung sie erneut ergriff, als sie ihren früheren Herren erblickten.

Erst nachdem die gesamte Generation, die in Knechtschaft lebte verschwand, konnten ihre Nachfahren das Land Israel betreten und sich dort als Volk errichten.

In anderen Worten: der Sklave ist gleich doppelt gebunden - zuerst aufgrund seiner Unterwürfigkeit zu dem Willen eines anderen und zweitens, weil er selbst weder einen Willen noch eine Persönlichkeit besitzt. Jemand, der seinen eigenen Charakter bewahrt, kann niemals versklavt werden und andersherum kann niemand wirklich frei sein, wenn er keine eigene Persönlichkeit besitzt.

Was wir über das Verhältnis von Sklaverei und Freiheit gesagt haben, ist in Bezug zu Exil und Erlösung umso wahrer. Ein Ende des Exils ist nicht zwangsläufig eine Erlösung - es muss etwas mehr geschehen.

Die Bedeutung des Wortes Exil ist nicht nur eine physische. Die Befeutung und volle Tragweite liegt auf der spirituellen Ebene. Im Exil sein bedeutet, dass man sich selbst Werten, Beziehungen und einer Lebensart unterwirft, die der Person sowie dem kollektiven Ego fremd sind.

Als das verfolgte jüdische Volk ins Exil ging, musste es seine Lebensart und die Weise der Aufrechterhaltung ändern. Einst ein Volk von Landwirten, wendeten sie sich nun dem Handel zu; einst frei und selbstbestimmend, nun veschiedenen Herren untertan; einst Herren ihres Lebenswandels, so mussten sie nun im Strom schwimmen, um nicht unterzugehen.

Solange sie ihren unabhängigen spirituellen Charakter, ihre religiösen Grundsätze, ihre innere Hierarchie und ihre eigene Lebensart bewahren konnten, so lange waren sie nicht wahrhaftig versklavt - zumindest nicht auf der spirituellen Ebene ihrer Existenz.

Die Dunkelheit und Ignoranz des Mittelalters konnten der spirituellen Kreativität und der Vitalität des exilierten jüdischen Volkes nichts anhaben. Der Jude jener Epoche wurde verfolgt, verachtet und erniedrigt; er musste sich eingestehen, in vielen Bereichen seines Lebens hilflos und schwach zu sein. Nichtsdestotrotz war sein Exil nie vollständig, weil er sich selbst nie als verachtenswert oder sich irgendwem als unterlegen erachtete, solange er seinen eigenen grundlegenden Charakter behielt. Seine spirituelle Welt war ihm nicht nur ein Trost - sie war wahrhaftig seine Heimat und in seiner Ebene des Lebens existierte kein Exil.

Paradoxerweise war es die Assimilation, die sein Exil vervollständigte, denn als der assimilierte Jude sich von seinem unverwechselbaren Charakter trennte, gab er seinen letzten Schnipsel Unabhängigkeit auf. Folglich war er im wahrsten Sinne exiliert, auch wenn er als Individuum seine Freiheit erlangte. Nun war es die Umwelt, die seine Werte, Beziehungen und seinen Charakter bestimmte - und das nicht nur auf einer übernatürlichen Ebene, sondern auch tief in seinem Herzen.

Die wahre Tragödie des Exils in Ägypten war, dass die Sklaven sukzessiv wie ihre Herren wurden - sie dachten wie sie und träumten sogar dasselbe. Ihre größte Sorge war, dass ihre Herren sie nicht den ägyptischen Traum erfüllen lassen wollten. Es reichte ihnen nicht zu erkennen, wie sehr sie unter dem strengen Regime zu leiden hatten, dessen Untertan sie waren - sie mussten entscheiden, dass sie nicht mehr Teil desselben sein wollten.

Die ägyptische Klassenstruktur zu ändern, sodass auch sie Offiziere und Lehnsherren werden könnten, hätte nicht dazu beigetragen, sie von ihrer Knechtschaft zu befreien. Erst als sie bereit waren, nicht nur aus dem physischen Land Ägyptens, sondern aus der konzeptionellen Welt in der sie lebten, auszuziehen - als sie bereit waren, ihre Hingabe für die ägyptischen Werte wie das erste Pessachlamm zu opfern - erst dann konnten sie wahrhaftig befreit werden.

Um die wahre Erlösung und nicht nur das Ende des Exils zu erlangen, war es für das jüdische Volk nicht genug, "die Wildnis der Völker" zu verlassen. Es muss ihre eigene Essenz, ihren Charakter, Geist und Denk- sowie Lebensweisen wiedererhalten. Erst dann kann es wahrhaftig frei sein. Erst dann ist es vollständig erlöst.

Durch die Gesetze und Bräuche des Sederabends hindurch ist es das Wichtigste über uns, das wir betonen: "wir waren einst Sklaven - und nun sind wir frei." Während wir durch die Rituale und dem Rezitieren der Haggada schreiten und den geschriebenen Text und dessen Hintergrund diskutieren, müssen wir uns selbst klar machen, dass wir erst dann wahrlich erlöst werden, wenn wir es auf uns nehmen, unser Streben, auf unsere eigene Art zu leben, zu erfüllen - dann werden wir wirklich frei.