Das wunderbare Gewebe von Symbolen, Bräuchen und Feierlichkeiten des Pessach-Seders wird vom alles überragenden Thema der Freiheit durchzogen. Obwohl dieses Thema am Seder durch einfache symbolische Handlungen, wie das Anlehnen als freie Menschen, das Trinken der vier Gläser Wein und der wiederholten Erklärung, dass wir freie Menschen sind, versinnbildlicht wird, kann der tiefere Begriff von Freiheit tatsächlich unser Innerstes durchdringen und unser Leben verändern.
Freiheit wird meistens als ein Zustand von nicht verknechtet zu sein wahrgenommen - ebenso wie Knechtschaft als Mangel von Freiheit definiert werden kann. Doch in Wahrheit schafft das Fehlen von Knechtschaft an sich noch keine Freiheit.
Knechtschaft ist ein Zustand, in welchem jemand für immer gezwungen wird, fremdbestimmt zu handeln. Freiheit ist die Möglichkeit des Menschen, sein Selbst zu leben und auszudrücken. Um unabhängig handeln zu können, muss man den Willen haben, seine Einzigartigkeit auszudrücken. Jemand, der den Wunsch nach unabhängiger Selbst-Äußerung und Selbstverwirklichung nicht hat – sei es weil er gebrochen wurde, oder sei es weil sich die Seele nie entfalten konnte – kann nicht als freier Mensch betrachtet werden. Er ist nicht frei, obwohl er nicht mehr physisch geknechtet ist; er ist bloss ein herrenloser Sklave – ein Knecht ohne Herr.
Das Wunder des Auszugs aus Ägypten war mit dem Auszug selbst nicht abgeschlossen. Das jüdische Volk musste zu freien Menschen werden, nicht bloss zu weggelaufenen Sklaven.
Abraham Ibn Esra beschreibt die Situation wie folgt: „Am Ufer des Schilfmeeres hatten die Juden den innersten Wunsch, der Last der Knechtschaft zu entkommen. Da sie jedoch ihr gesamtes Leben als Sklaven verbracht hatten, konnten sie die tief sitzende Bindung zu ihren Herren nicht einfach abwerfen. Erst nachdem die in Knechtschaft geborene Generation ausgestorben war, war das jüdische Volk bereit, ins Land Israel zu ziehen und zu einem freien Volk zu werden.“
Ein Knecht hat eine doppelte Last: Er ist gezwungen, seinem Herrn zu gehorchen, und er hat keinen eigenen Willen. Daher kann eine Person, die sich ihrer eigenen Einzigartigkeit und Individualität bewusst ist, nie versklavt werden. Umgekehrt kann jemand, der kein solches positives Selbstbild besitzt, nie als völlig frei betrachtet werden.
Dieselben Bedingungen die ein Individuum verknechten, gelten auch für uns in unserem derzeitigen Exil oder „Galut“. Wirkliche Erlösung beinhaltet mehr als das Verlassen des Exils. Im Zustand des Exils ist implizit die Zerstörung und Unterwerfung des Willens einer Nation und ihres kollektiven Strebens unter das Diktat einer fremden Macht enthalten. Eine Gruppe von Menschen, die ihr Land aus freien Stücken verlässt, die ihren Lebensweise gemäss ihrer eigenen Werte bestimmt, kann aber nicht als im Exil lebend betrachtet werden. Sie leben lediglich vorübergehend in einem fremden Land. So lange sie frei sind, ihr essentielles Selbst offen und selbstbewusst leben zu können, sind sie nicht wirklich im Exil. Exil wird erst zur Knechtschaft, wenn es nationale Selbstäusserung und Selbstbestimmung einschränkt und erstickt. Ähnlich wie Knechtschaft ist auch Exil bis zu einem gewissen Grad ein physischer Zustand, sein eigentlicher Charakter jedoch ist spirituell. Einer der geknechtet wird, gibt seine eigenen Werte auf – und akzeptiert Werte, die dem persönlichen oder kollektiven Selbst entgegengesetzt sind.
Das verfolgte Jude war unzählige Generationen lang im Exil gewesen. Man verlangte von ihm, dass er seine Art zu leben auf den Kopf stellte. Ein Volk das vorwiegend landwirtschaftlich tätig war, wurde zu einem Volk von Händlern, ein unabhängiges Volk wurde geknechtet und unter fremde Herrschaft gezwungen, gebeutelt von allerlei Stürmen. Doch nichts desto trotz – so lange das jüdische Volk an seinem Erbe und an seinen geistigen Prinzipien, an seinem inneren Lebensweg, und Benehmen festhielt – solange war es kein versklavtes Volk. In all den Jahren des Exils und der Wanderung musste der Jude sich in so manchen Bereichen des Lebens mit der Unmöglichkeit, das eigene Schicksal selbst zu meistern, arrangieren. Doch dieses Exil war nie ein vollständiges, denn der Jude betrachtete sich selbst nie als gering oder minderwertig. Solange er die Essenz seines inneren Selbst bewahrte, war die Verbindung zu G-tt für ihn nicht nur ein Trost, sondern diente ihm auch als wahre Heimat, ein geistiger Ort, den das Exil weder beschädigen noch vermindern konnte.
Vollständiges Exil, geistig und körperlich, beginnt mit Assimilation. Sobald der assimilierte Jude den Sinn für seine spezielle Eigenart verliert, verliert er seine Unabhängigkeit. Auch wenn ihm persönliche Freiheit gewährt wird, ist sein Exil absolut. Sein wahres Selbst bestimmt nicht mehr seinen Lebensweg. Das Leben des assimilierten Juden wird durch Fremdeinflüsse, im geistigen und physischen Leben bestimmt. Sogar wenn der assimilierte Jude in einem Land lebt, das Fremden nicht mehr aufzwingt, wie sie zu leben haben, ist er in einem Zustand von Exil. Er trägt die Bedingung des Exils im tiefsten Sinn mit sich. Er ist seines wahren Selbst beraubt, des Selbst, welches ihn zur Freiheit führt. Äussere Kulturen mögen ihn zwar physisch nicht versklaven, beherrschen ihn jedoch weiterhin geistig und rauben ihm sein Erbe.
Ein berühmtes chassidisches Wort sagt: „Es ist leichter, den Juden aus dem Exil zu nehmen, als das ‚Exil‘ aus dem Juden“.
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