Nach der Beschreibung der Teilung des Meeres, die den Kindern Israel ermöglichte, durch dessen getrenntes Wasser zu gehen, führt die Tora aus:
Moses streckte seine Hand über das Meer aus; und das Meer bei Morgenanbruch kehrte zu seiner Kraft zurück ...
Darauf bedacht, dass das hebräische Wort l'ejtano ("zu seiner Kraft") aus denselben Buchstaben besteht wie das Wort litna'o ("zu seiner Bestimmung"), sagt der Midrasch:
Am dritten Tag der Schöpfung, als G-tt das trockene Land aus dem Wasser hervortrat, dafür sorgte, dass sich das Wasser an einem großen Ort sammelt und aus ihnen das Meer formte, bestimmte Er, dass das Meer sich teilen sollte, um so den Kindern Israel die Möglichkeit zu geben, auf trockenem Land hindurch schreiten zu können und dann die Ägypter zu überwältigen. Folglich kann der Vers auch so gelesen werden: "Und das Meer kehrte zu seiner Bestimmung zurück".
Allerdings gibt es bei dieser Interpretation eine Schwierigkeit: der obere Vers bezieht sich nicht auf die Erfüllung des Meeres in Bezug auf die Teilung, sondern auf seine Rückkehr zu seinem vorherigen Zustand. War der wichtigste Teil der "Vereinbarung" nicht, dass sich das Meer - seiner Natur widersprechend - teilte? "Zu seiner Kraft zurückkehren" erscheint ein wenig mehr zu sein als nur eine Rückkehr zum natürlichen Zustand.
Einer der Kommentatoren des Midrasch weist auf eine Erklärung im Talmud zu einem gleichartigen Wunder hin. Im Talmud (Chulin 7a) sagt Rabbi Pinchas ben Yair dem Fluss Ginai, er solle sein Wasser teilen. Als er das ablehnt sagt er ihm: "wenn du das nicht tust, so bestimme ich, dass in dir nie wieder Wasser fließen soll." Sollte dasselbe auf das Rote Meer zutreffen, so ist die Rückkehr zur früheren Stärke ein Hinweis, dass es seine Abmachung mit G-tt gehalten hat.
Eine bedingte Welt
Rabbiner Israel Baal Schem Tow dehnte dieses Prinzip auf die gesamte Schöpfung aus: während der Schöpfung der Welt wurden alle natürlichen Objekte unter der Bedingung geschaffen, dass sie dem Willen des Gerechten folgen, selbst wenn dies ihren natürlichen physischen Gesetzen zuwider läuft. Ferner, sagt der Baal Schem Tow, werden sie bei Ungehorsam nicht nur aufhören zu existieren - es wäre vielmehr so als wären sie nie geschaffen worden. In anderen Worten: hätte sich das Rote Meer nicht geteilt, so würde es nicht nur nie wieder mehr Wasser führen, sondern seine gesamte vorherige Existenz ausgelöscht.
Folglich erklärt der Vers "das Meer kehrte zu seiner Kraft zurück". Durch die Erfüllung seiner Vereinbarung mit G-tt sicherte es seinen Fortbestand und bestätigte zur selben Zeit seine vorherige Existenz.
Dieser Punkt mag für uns schwierig zu verstehen sein, denn obwohl wir uns vorstellen können, wie etwas ausgelöscht wird, so ist seine vorherige Existenz eine wirkliche Tatsache, die nicht rückwirkend entfernt werden kann.
Die geistige Hemmung, die uns hindert, dies nachzuvollziehen beruht auf einem zweischneidigen, säkularen Konzept, an das sich unser Verstand hartnäckig klammert: erstens, dass Objekte eine wirkliche und unabhängige Existenz haben; zweitens, dass unser Zeitgefüge (in dem wir nicht zurückgehen und die Vergangenheit ändern können) das einzig mögliche ist. Beide Konzepte sind falsch innerhalb des Judentums. Im ersten Fall können Objekte nur existieren, weil G-tt sie fortwährend schafft; im zweiten Fall ist die Zeit ein menschliches Konzept, eines, an das G-tt nicht gebunden ist (in der Tat ist es eines, das G-tt erschuf und aus dem Er sich offensichtlich heraushalten kann).
Daraus folgt, dass falls G-tt sich dazu entscheidet, dass etwas "ungeschaffen" sein soll, es rückwirkend sein gesamtes (das ist: vergangenes und zukünftiges) Wesen einbüßt.
Daher stammt der Begriff "Vereinbarung", den der Midrasch in den Vers einfügt. Die engste Analogie menschlicher Begriffe, die den Zustand der Existenz des Meeres (und den der gesamten geschaffenen Realität) beschreibt, ist eine bedingte, rechtliche Übereinkunft. Sollte die Bedingung nicht erfüllt sein, so endet die Übereinkunft nicht, sondern bedeutet vielmehr, dass die Übereinkunft gar nicht erst zustande kam.
Die Stärkung des Meeres
Warum musste G-tt eine Übereinkunft mit dem Meer treffen und warum gerade als es geschaffen wurde? Seine Macht über Seine Schöpfung ist unbegrenzt; Er hätte das Meer bestimmt teilen können, wenn Er es gewollt hätte - mit oder gegen seine Zustimmung.
Die Antwort hierfür findet man in der Verwendung des Wortes "Kraft" (l'ejtano), auf die "Vereinbarung" (litna'o) des Meeres anzuspielen. Man könnte meinen, dass weil die Schöpfung des Meeres "bedingt" war, ihre Existenz weniger real wäre. In Wahrheit ist das genaue Gegenteil der Fall: dies ist die Quelle seiner wahren "Kraft" und Lebhaftigkeit.
In seinem Kommentar zu dem allerersten Vers von Genesis interpretiert Raschi den Ausdruck Bereschit ("im Anfang") so, dass es die Welt geschaffen wurde, "zum Wohle Israels und der Tora." Dies kann man auf zweierlei Ebenen verstehen. Im einfacheren Sinne bedeutet dies, dass die Gesamtheit der Schöpfung existiert, um dem Volke Israel die Möglichkeit zu geben, G-ttes Willen auf Erden umzusetzen. Ein tieferes Verständnis ist, dass durch Israel's Erfüllung des g-ttlicuhen Zwecks der Schöpfung die Welt selbst geheiligt wird, indem sie zur "Wohnstatt" G-ttes wird und so folglich zu ihrer eigenen Erfüllung gelangt.
Wäre die Welt als etwas geschaffen worden, das nachträglich gezwungen werden muss, Israel's Aufgabe aufzunehmen, so wäre ihre eigene "natürliche" Existenz endlich und zeitlich begrenzt, nichts weiter als ein "Hintergrund" oder eine "Einrichtung" zur - und machmal auch ein Hindernis für - die Umsetzung des g-ttlichen Zwecks. Aber für die anfängliche Übereinkunft, dass körperliche Objekte ihre Natur ändern, wenn es zum Wohle der Umsetzung der Tora nötig ist, schrieb G-tt diese wunderliche Möglichkeit in ihre eigene Verfassung. Dies bedeutet, dass wenn das Wunder geschieht, dies nicht eine Unterbrechung ihrer natürlichen Existenz ist, sondern die Fortsetzung und Erfüllung.
Dies verleiht ihrer Existenz eine komplett andere Anforderung. Sie werden nicht zu Dingen, die eine Weile lang existieren und dann verschwinden, sondern zu Dingen, deren Bestimmung (durch die Natur ihrer Schöpfung) mit der wundersamen und ewigen Existenz Israels und ihrer wundersamen und eiwgen Umsetzung des g-ttlichen Zwecks verbunden ist.
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