Wir alle bewohnen zwei Welten - Welten, die oft soweit voneinander entfernt liegen, wie zwei Welten es nur sein können. Eine Welt ist der offenbarte Teil unserer Existenz: unser Berufs-, Sozial- und Familienleben; unsere bewussten Gedanken und Gefühle. Geichzeitig bewohnen wir eine verborgene Welt - eine Welt unterbewusster Triebe und Verlangen, immanenter Wahrheiten und tiefer Überzeugungen, die selten - falls überhaupt - zutage treten.
Kabbalistische und chassidische Lehren bezeichnen diese beiden Welten als unsere "Land-Realität" und unsere "Meer-Realität." Auf dem Land liegen die Dinge offen - so sehr, dass sie oftmals von ihrer Umgebung und Lebensquelle getrennt erscheinen (wenn man ein Gedränge von Geschäftsmännern in Anzügen betrachtet, die einem geschäftigen Bürgersteig entlang eilen, so ist es nur schwer vorstellbar, dass sie ihre Nahrung aus der Erde ziehen). Auf der anderen Seite ist im Meer alles eingetaucht und verborgen. Man kann bestenfalls einen schattenartigen Eindruck von dem gewinnen, das sich eng an der Oberfläche befindet - von dem, was sich tief unten versteckt, sehen wir gar nichts. In dieser Welt sind die Kreaturen in ihrer tragenden Umgebung eingebettet, oftmals bis zur Unkenntlichkeit.
Was auf individueller Ebene wahr ist, gilt auch für die Schöpfung als Ganzes. Es gibt die "offenbarten Welten", die die materiellen und physischen Wahrheiten beinhalten, aber auch jene spirituellen Wahrheiten, die für uns verständlich und zugänglich sind. Aber hinter diesem Land liegt die mysteriöse See, die übernatürliche und übersinnliche Schicht der Schöpfung.
Der meiste Schmerz und die meiste Frustration in unserem Leben stammt von der Kluft zwischen unseren Land- und See-Persönlichkeiten. Wenn wir nur unser offenbares Leben mit unserem unterbewussten Selbst aussöhnen könnten! Wenn wir nur unseren wahren Willen und unsere tiefsten Sehnsüchte anerkennen könnten; wenn nur die zahllosen Entscheidungen, die wir in unserer irdischen Existenz täglich treffen müssen das reflektieren würden, was wir wirklich sind und was wir wahrhaftig begehren. Auf kosmischer Ebene ist das Streben und die Zwietracht, die das bekannte Universum einspannen, sind ebenfalls das Resultat ihrer Unterbrechung von der mystischen Dimension.
Dies, erklären die chassidischen Gelehrten, ist die spirituelle Bedeutsamkeit der Teilung des Meeres am siebenten Tag Pessach. Der Midrasch führt aus, dass als G-tt das Rote Meer für die Kinder Israel teilte, Er ebenfalls alle Gewässer der Welt teilte - die physischen Meere der Erde, das individuelle Meer der Seele, zum kosmischen Meer, das die tiefsten Geheimnisse der Schöpfung bedeckt. In den Worten des Psalmisten "G-tt verwandelte das Meer in trockenes Land; sie durchquerten den Fluss zu Fuß" (Psalm 66:6). Was gewöhnlich verborgen und unerreichbar war, wurde offenbar und tastbar und das durchqueren der Tiefen einer Seele war wie das Gehen auf festem Grund.
Nachdem die Kinder Israel durch "die Mitte des Meeres auf trockenem Land" schritten, nahm das Wasser wieder seinen natürlichen Zustand an. Wieder wurde die See-Realität vernebelt; wieder wurde das Unterbewusstsein ein mystischer und geheimnisvoller Ort. Aber es wurde ein Präzedensfall geschaffen, in unseren Seelen wurde ein Potenzial eingepflanzt.
Niemals wieder war das Meer unbezwingbar; niemals wieder machten das Offenbare und das Verborgene eines Menschen zwei voneinander getrennte Welten aus. Durch das Teilen aller Meere der Schöpfung gab Er uns die Kraft, unsere eigenen Meere zu durchbrechen, trockene Pfade durch die Ozeanböden unserer Seelen zu brennen.
Wie trocken?
In der Dajenu-Hymne, die am Pessachseder gesungen wird, zählen wir 15 Dinge auf, die G-tt für uns bei Seiner Befreiung aus Ägypten und der Erwählung zu Seinem Volke getan hat. Wir danken G-tt für jedes dieser Dinge einzeln und erkennen jedes als eigenes und einzigartiges Geschenk an. Folglich sagen wir: "hätte Er uns aus Ägypten geführt, die [Ägypter] aber nicht bestraft - uns hätte es gereicht...."; "hätte Er uns mit Manna genährt, uns aber den Schabbat nicht gegeben - uns hätte es gereicht...." und so weiter.
In der Strophe, die sich auf die teilung des Meeres bezieht, singen wir:
Hätte Er das Meer geteilt, uns aber nicht über das trockene Land genommen - uns hätte es gereicht.
Viele Kommentatoren der Haggada rätseln über die Bedeutung dieser Zeilen: was bedeutet es, dass es uns gereicht hätte, wenn G-tt das Meer zwar geteilt, uns aber nicht hindurch über das trockene Land genommen hätte? Welchen Nutzen hätte die Teilung des Meeres für uns gehabt, wenn es uns nicht die Möglichkeit gegeben hätte, auf die andere Seite zu gelangen und so der nachsetzenden Armee des Pharao zu entfliehen?
Der Avudraham (klassischer Kommentar des Siddur, von Rabbi David Avudraham, Spanien 14. Jhdt) erklärt, dass die Betonung darauf liegt, dass wir das Meer auf trockenem Land durchschritten. Um vor den Ägyptern gerettet zu werden wäre es ausreichend gewesen, das Meer zu teilen, sodass wir uns durch den Schlamm und Schlick, der den Meeresboden bedeckt, schleppen. Um Seine Liebe für Sein Volk zu demonstrieren, vollbrachte G-ttt ein weiteres Wunder, indem Er den Weg trocken und fest machte, wie Land, das niemals von Wasser bedeckt war.
Aber die 15 Dinge, die vom Autor des Dajenu aufgelistet werden, sind nicht nur eine Aufzählung von Wundern, die G-tt im Laufe des Exodus vollbrachte (von denen es noch viele andere gab), sondern wichtige Entwicklungen in der jüdischen Geschichte: der Exodus selbst, die Teilung des Meeres, die Manna, die gabe der Tora, das Betreten des heiligen Landes, der Bau des Heiligen Tempels - Geschehnisse, die unser Leben als Juden bis heute fundamental beeinflussen. Was also ist die bleibende Bedeutung der Tatsache, dass sich nicht nur das Meer teilte, sondern sich für uns auch eine vollkommen trockene Passage durch seine Tiefen offenbarte?
Der Mittelmann
In seinem Tanja beschreibt Rabbi Schneur Salman von Ljadi drei spirituelle Persönlichkeiten: den Rascha (Sünder), den Zaddik (absolut gerechte Person) und den Bejnoni (den Mittleren).
Der Rascha ist jemand, dessen offenbartes Leben - seine Taten, Reden und bewussten Gedanken - mit seiner verborgenen Essenz in Konflikt steht. Seine Seele ist nicht weniger "wörtlich ein Teil von G-tt oben" wie die der perfektesten seiner Brüder; aber sein Alltag enthält Taten, die eine Übertretung des g-ttlichen Willens darstellen. Sein quintessenzielles Verlangen ist seinem Ursprung gegenüber treu zu sein, aber er verlangt bewusst nach Dingen, die sein Verhältnis zu G-tt behindern.
Beim Zaddik herrscht perfekte Harmonie zwischen den verborgenen und offenbaren Teilen seiner Selbst. Seine innewohnende Liebe zu G-tt läuft in sein offenbartes Leben über, sodass er nur nach jenem strebt, das seinen Bund mit dem Allmächtigen unterstreicht und stößt jenes ab, das diesen bedroht. Er ist derjenige, der "sein Meer in trockenes Land verwandelt" hat - jemand, dessen quintessenzielles und offenbartes Selbst ein- und dasselbe sind.
Zwischen dem Rascha und dem Zaddik ist der Bejnoni, der Mittlere. Wie beim Rascha begehrt der Bejnoni böses; aber er gestattet seinen negativen Impulsen niemals, Ausdruck in Taten, Reden oder bewussten gedanken zu finden. In anderen Worten ist der Bejnoni ein Verhaltens-Zaddik und ein psychologischer Rascha. Auf der Verhaltensebene ist sein Leben absolut konform mit seiner inneren Identität als Funken der g-ttlichen Fackel. Psychologisch bleibt die Unstimmigkeit zwischen seiner Essenz und seinem bewussten Selbst aber bestehen.
Der Bejnoni ist jemand, der das Meer zwar geteilt hat, aber auf dessen matschigem Boden abmüht. Er hat sein inneres Selbst ausreichend durchbrochen, um auf die andere Seite zu gelangen. Er kommt zum selben Ergebnis wie der Zaddik: sein Alltag ist ein perfektes Abbild seines innersten Sebst. Sein Meer wurde aber nicht in trockenes Land verwandelt. Das Leben ist für den Bejnoni ein dauernder Kampf mit dem Widerspruch zwischen Meer und Land.
Ein zweifacher Riss
Nach der Beschriebung des inneren Lebens dieser drei spirituellen Persönlichkeiten führt der Tanja fort, dass jeder die Kapazität eines Bejnoni hat - die komplette Kontrolle über das eigene Benehmen zu haben und nicht einem einzigen bösen Impuls zu erlauben, Ausdruck in Taten zu finden. Aber nur wenige können den Status eines Zaddik erreichen und es wird nicht erwartet oder gar erstrebenswert, dass alle außer wenige diesen Status erreichen sollten. Allerdigs gibt es etwas beim Bejnoni, etwas in seinem fortwährenden Kampf mit dem Bösen, das sein Leben reichhaltiger und g-ttlicher macht als die perfekte Existenz des Zaddik. G-tt begehrt beide, Bejnonim und Zaddikim, in Seiner Welt, denn jeder stellt eine Dimension Seines Schöpfungszwecks dar, die der jeweils andere nicht erfüllen kann.
Auf einer subtileren Ebene beinhalten unsere Leben beide Zustände. Wir haben alle unsere Bejnoni -Phasen des Kampfes und unsere Zaddik-Momente der Harmonie - beide sind integral für ein komplettes Selbst.
Am siebten Tag nach dem Exodus gab uns G-tt die Fähigkeit zu beiden Lebensweisen: Tugend und Perfektion, erfolgreichen Kampf und harmonische Ganzheit. Er teilte für uns das Meer und gab uns die Kraft, unser verborgenes Selbst in unserem Alltag zu offenbaren. Und Er verwandelte das Meer in trockenes Land und ermöglichte uns, eine komplette Synthese unserer mystischen Essenz und unserer irdischen Persönlichkeit anzustreben.
Basierend auf einem Vortrag des Lubawitscher Rebben, Pessach 1958 (Likute Sichot, Bd. III, S. 1016e-1016f)
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