In der dieswöchigen Sidra schildert die Tora den Abschluss der Spaltung des Schilfmeeres so (Exodus 14. 27): "Und Moses streckte seine Hand aus über das Meer, und das Meer kehrte um die Morgenwende zurück zu seiner früheren Stärke ..."
An mehreren Stellen bemerkt der Midrasch, dass G-tt bei der Erschaffung des Schilfmeeres die Bedingung machte, es müsse sich spalten, wenn Israel zum Durchmarsch gezwungen sei. Genau dies ist die Bedeutung des Ausdruckes im zierten Verse: "Das Meer kehrte zurück zu seiner früheren Stärke"; das heißt, es "erfüllte die Bedingungen, die Ich anfänglich festgesetzt hatte" (s. dazu die Erläuterung des Baal Haturim z. St.). Dieser Midrasch jedoch ist zuerst nur schwer verständlich; denn der Vers bezieht sich, ganz offenkundig, nicht darauf, dass das Meer die Bedingung erfüllte, sich zu spalten, sondern er besagt, im Gegenteil, klar und deutlich, dass es in seinen ursprünglichen Zustand zurückkehrte, nämlich die Wasser wieder zusammenzubringen und über die nacheilenden Ägypter zu schütten.
Ein Kommentar zum Midrasch schlägt eine Antwort hierauf vor, wie folgt: Im Talmud (Chulin, 7a) befiehlt R. Pinchas ben Ja'ir dem Flusse Ginnai, seine Wasser zu spalten, damit er ihn zu einem sehr wichtigen Zwecke durchqueren könne; und als dieser sich weigert, sagt er zu ihm: "Wenn du es nicht tust, denn werde ich anordnen, dass niemals mehr Wasser in dir fließen wird." Wenn nun dieser Gesichtspunkt auf das Schilfmeer ungewandt wird, dann würde das Zurückkehren in den ursprünglichen Zustand und zur früheren Stärke beweisen, dass es seine Abmachung mit G-tt erfüllt hatte.
Eine weitere Frage hingegen bleibt noch offen, nämlich: Warum hielt G-tt es für notwendig, überhaupt eine Abmachung mit der See zu machen, und dazu noch in dem Augenblick, da diese geschaffen wurde? Ist doch Seine Macht über Seine Geschöpfe unbegrenzt, und so hätte Er das Schilfmeer spalten können; wann immer Er wollte, ohne dessen "Zustimmung" zu benötigen.
Raschis Kommentar zum ersten Verse der Tora, dass die Welt "um Israels willen und um der Tora willen" geschaffen worden war, bedeutet nicht einfach, dass die Welt besteht, um es Israel zu ermöglichen, G-ttes Willen auszuführen, sondern es besagt, eindeutig, dass durch Israels Dienstvorrichtungen die Welt selbst geheiligt wird, zu einem "Standort" für G-tt gemacht und auf diese Weise zu ihrer eigenen Erfüllung gebracht wird. Wenn G-tt daher schon anfänglich die Bedingung stellt, dass Dinge ihr Wesen und ihre Gestalt ändern sollten, wenn dies um Israels willen erforderlich sein sollte, schrieb Er sofort auch diese wunderbare Möglichkeit (von Erfüllung) in die "Verfassung" der Welt und in ihre eigene "Verfassung". Daraus folgt dann, dass ein Wunder, wenn es sich ereignet, nicht mehr eine Unterbrechung ihrer normalen Aufgabe bedeuten würde, sondern vielmehr eine eigentliche Fortsetzung und damit eine Erfüllung dieser Aufgabe.
Dadurch allerdings erhält ihre Existenz ein ganz anderes Aussehen. Sie werden nicht zu Gegenständen, die eine Weile existieren und dann wieder verschwinden, sondern vielmehr zu Dingen, deren Geschick (schon aufgrund ihrer Erschaffung) mit dem Geschick Israels verknüpft ist. Israel aber ist im tiefsten Sinne etwas Ewiges. Israel ist für G-tt (Jesaja 60, 21) "der Zweig Meiner Pflanzung und das Werk Meiner Hände". Dadurch denn werden natürliche Dinge zu mehr als bloßen Instrumenten für Israels Fortschritt, sondern jetzt sind sie sofort die Verkörperung des Willen G-ttes (selbst wenn dies eine Änderung in ihrem Wesen und Aussehen mit sich bringt).
Deshalb verbindet unser Midrasch die Erfüllung der ursprünglichen Bedingung durch das Schilfmeer mit seiner Rückkehr zu seiner früheren Stärke, statt bloß in seiner Spaltung die Erfüllung der Bedingung zu sehen. Seine Existenz war noch nicht gerechtfertigt, solange es gespalten war, seine Erfüllung kam erst, als seine Wasser zurückkehrten, ewige Träger von G-ttes Willen zum Wohle des Geschickes Seines Volkes.
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