Dezember 1700. Es war ein kalter Winter in Polen, und eine Schneedecke lag über dem ganzen Land. Die Straßen der Stadt wimmelten von Menschen in Pelzmänteln, und die Bauern wärmten ihre Häuser mit Holz und sich selbst mit Wodka. Die Feiertage nahten, und alle waren in guter Stimmung.
Aber im jüdischen Ghetto von Krakau lagen Düsternis und Furcht in der Luft, und an jeder Ecke stöhnte jemand. Die Juden waren arm und verhasst und hatten nur eine einzige Quelle weltlicher Freude, die ihnen aber nun ebenfalls genommen wurde: Die Kinder starben an Pocken.
Es war der Beginn einer Epidemie. Die Ärzte waren hilflos, und Hausmittel wirkten nicht. Jeden Tag spielten sich erschütternde Tragödien ab. Der Einzige, an den sie sich wenden konnten, war wie immer ihr Vater im Himmel; aber der schien ihre Gebete nicht zu hören.
Der Rabbiner der Gemeinde hatte einen Fasttag ausgerufen, dann noch einen, dann drei Tage des Gebetes und der Selbstprüfung. Aber nichts half. Eine Woche der Demut sollte folgen, doch ehe sie begann, beschlossen die Ältesten einen „Traumbefragung“, welche die Meister der geheimen Kabbala-Weisheit anwandten.
Das war eine drastische Maßnahme, aber sie glaubten, keine andere Wahl zu haben. Sie reinigten sich, fasteten, sprachen den ganzen Tag Psalmen, tauchten in eine Mikwe und baten dann den Himmel, gemäß den alten kabbalistischen Formeln, um ein Zeichen im Schlaf.
In der Tat hatten sie in der folgenden Nacht alle den gleichen Traum.
Ein alter Mann in einem weißen Mantel erschien und sagte: „Schlomo, der Metzger, soll vor der Gemeinde beten.“
Zeitig am nächsten Morgen trafen sich alle in der Synagoge und berichteten einander über ihren Traum. Jetzt wussten sie, was sie zu tun hatten.
Zwanzig Älteste schritten feierlich zu Schlomos Haus und klopften. Als seine Frau öffnete, fiel sie schier in Ohnmacht.
„J-ja?“, stammelte sie und stopfte ihr loses Haar unter ihr Kopftuch.
„Wir wollen mit deinem Mann sprechen“, sagte einer von ihnen lächelnd und versuchte, so freundlich wie möglich zu sein. „Dürfen wir eintreten?“
Schlomo kam an die Tür, bat sie herein, schüttelte ihnen die Hand, holte Stühle. Als sie sich alle gesetzt hatten, begann einer der Ältesten:
„Schlomo, wir fragten G-tt, was wir gegen die Epidemie tun sollen, und wir hatten alle den gleichen Traum: Du sollst heute die Gebete leiten.“
Schlomo war verdutzt. „Warum ich? Ich kann nicht einmal richtig lesen. Was soll das nützen?“
„Komme einfach und tu, was du kannst“, baten die Ältesten. „Bete einfach vor der Gemeinde. Vielleicht geschieht dann ein Wunder. Wir haben alle in die Synagoge gerufen. Komm einfach und sprich ein paar Worte. Es kann nur besser werden.“
Schlomo blieb nichts anderes übrig, als mit ihnen zu gehen. Doch kaum hatten sie die überfüllte Synagoge betreten und die Tür geschlossen, lief Schlomo weg und war bald nicht mehr zu sehen.
Was sollten sie jetzt tun? Sie konnten nur warten.
Ein paar Minuten später ging die Tür auf, und herein kam Schlomo mit einer Schubkarre, die mit einem Tuch bedeckt war.
Alle Augen lagen auf ihm, als er zum Podium ging, das Tuch wegzog und eine alte Waage aus der Schubkarre holte. Er hatte seine Metzgerwaage mitgebracht!
Die Waage war schwer, aber Schlomo hob sie über den Kopf. Sein Gesicht war von der Anstrengung verzerrt, und Tränen flossen aus seinen Augen.
„Hier!“, rief er und schaute nach oben. „Hier, G-tt, nimm die Waage. Sie ist doch der Grund, warum ich vorbeten soll, oder? Also nimm sie, und heile die Kinder!“
Jetzt schluchzte Schlomo laut, und in der Synagoge war es totenstill. Ein paar Männer eilten herbei und halfen ihm, die Waage auf einen Tisch zu stellen. Dann begannen die Gebete.
Am selben Abend ging es den Kindern langsam besser.
Die Juden freuten sich und feierten. Sie bauten sogar einen hübschen Glasschrank für die Waage, und stellten sie aus, damit jeder sie sehen konnte.
Doch nach einigen Tagen, als die Aufregung sich gelegt hatte, mussten die Ältesten zugeben, dass sie nicht verstanden, was geschehen war. Schließlich gab es Dutzende von Läden im Ghetto, die Waagen benutzten, und alle gehörten ehrlichen, frommen Juden. Was war an Schlomos Waage besonders?
Die Antwort erhielten sie bald. Als sie alle anderen Waagen überprüften, entdeckten sie, dass jede einzelne ein wenig falsch eingestellt war – nicht so stark, dass man von Betrug sprechen konnte, aber doch falsch. Schlomo hatte seine Waage zweimal am Tag überprüft, während die anderen das nur gelegentlich taten. „Das ist es, was G-tt will“, erklärte Schlomo.
Man erzählt, dass diese Waage über zweihundert Jahre in dieser Krakauer Synagoge stand, bis die Deutschen im Zweiten Weltkrieg alles zerstörten.
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