Die dieswöchige Sidra schildert unter anderem Jakobs Hochzeit mit Labans Töchtern Lea und Rachel; und viele Toraerklärer ringen mit der Frage, wie es sein konnte, dass er zwei Schwestern heiraten durfte. Er hielt doch (nach Genesis 32, 5 und Raschi dort) die ganze Tora ein, und die Tora verbietet ausdrücklich (Lev. 18, 18) die Ehe mit zwei oder mehreren Schwestern. Wir geben im Folgenden – notwendigerweise jedoch in nur knappen Umrissen – unsere eigene Erläuterung dazu.

Unsere Vorväter hatten es auf sich genommen, die gesamte Tora einzuhalten, obwohl sie – es war ja noch vor der Offenbarung am Sinai – nicht ausdrücklich dazu verpflichtet waren. Es war dies eine zusätzliche Dimension ihrer G-ttergebenheit. Wo immer jedoch Mizwot der Tora, deren Einhaltung ihnen nicht befohlen worden war, mit Vorschriften in Widerspruch standen, deren Beobachtung ihnen von G-tt positiv vorgeschrieben worden war, befolgten sie selbstverständlich nicht die unaufgetragenen Mizwot. In der Tat bedeutete eben dieses Nicht-Tun für sie eine wahrhafte Einhaltung der Tora; denn die Tora selbst verlangte, dass sie einen positiven Akt von Frömmigkeit unterlassen sollten, wenn dieser einem ausdrücklichen Befehl zuwiderlief.

Abgesehen von den Vorschriften, welche Noach und seinen Nachkommen spezifisch von G-tt gegeben worden waren, nahmen die Noachiden es auf sich (sozusagen als eine gemeinschaftliche Verantwortung), zusätzliche ethische Gesetze einzuhalten (vgl. Raschi zu Genesis 34, 7), die dann allerdings für sie verpflichtend wurden, den noachidischen Geboten gemäß und aufgrund der Tora (vgl. Raschi zu Genesis 27,34 im Zusammenhang mit dem Gebot, Vater und Mutter zu ehren).

Wenn nun eines dieser allgemein und gemeinschaftlich akzeptierten Gesetze mit den "Sinai-Mizwot" in Konflikt geriet – den "Sinai-Mizwot" also, die die Patriarchen als ihre persönliche Norm übernommen hatten, als persönliche Verpflichtung auf sich genommen –, dann durften sie in einem solchen Falle die "Sinai-Mizwot" nicht erfüllen. Ein derartiges allgemein anerkanntes Gesetz war zum Beispiel, jede Täuschung und jeden Betrug zu vermeiden, so dass sogar Laban, "der Schwindler", sich bemüßigt fühlte, das Tauschungsmanöver, das er (in der Hochzeitsnacht) Jakob gegenüber angewandt hatte, mit fadenscheinigen Entschuldigungen zu verteidigen.

Jakob hatte Rachel die Ehe versprochen. Würde er dieses Versprechen nicht einhalten, so würde dies eine grobe Täuschung sein. Zudem würde dies für Rachel noch besonders qualvoll sein, weil sie befürchtete, man würde sie dann mit Esau verheiraten (vgl. Raschi zu Genesis 30,22). Folglich war es Jakob, obwohl er nun bereits mit Lea verheiratet war, gar nicht gestattet, das später einmal gültig werdende Tora-Verbot der Schwesternehe einzuhalten; vielmehr musste er sein Versprechen erfüllen, Rachel zu heiraten.

Aus diesem Gedankengang kann, jeder von uns eine sehr einfache, unkomplizierte Lehre entnehmen: Wenn immer jemand den Wunsch hat, bei der Innehaltung der Tora zusätzliche und besondere Feinheiten zu beobachten und auf sich zu nehmen, dann sollte er sich zuerst einmal vergewissern, dass dies nicht auf Kosten anderer sein würde. Zum Beispiel: Wenn man jemanden kennt, der wenig vom Judentum weiß und nötig für sich selbst eine elementare Tora-Belehrung braucht, und wenn man in der Lage ist, einem solchen willigen Lerner zu helfen, so ist man überhaupt nicht berechtigt, eine Ansicht wie die folgende zu vertreten und auszudrücken: "Nun, das ist alles schön und gut, aber ich will mich doch lieber auf meine eigenen Studien konzentrieren und meine eigene Tora-Verpflichtung auf ein höheres Niveau bringen."

Nein, er muss sich eindeutig fragen: Ist er selbst so viel wertvoller und verdienstvoller als der andere, so dass er bloß sein eigenes Engagement fördern darf, ohne sich um die elementaren spirituellen Bedürfnisse eines anderen zu scheren?