Der erste Vers der dieswöchentlichen Sidra Wajeze (Genesis 28, 10) lautet: "Und Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran". Beerscheba versinnbildlichte Frieden und Sicherheit. Dort hatte er ein Leben von Gebet und Studium geführt, von allen weltlichen Dingen abgerückt. Als jedoch die Zeit herannahte, da er sich verheiraten und die zwölf Stämme Israels zeugen sollte, war er gezwungen, diese Atmosphäre reiner Geistigkeit zu verlassen und nach Haran zu wandern, dort als einfacher Hirte auf den Gefilden zu arbeiten.
In unserem modernen Zeitalter scheinen sich viele von uns zu folgenden Fragen veranlasst zu sehen: "G-tt hat uns viele Gebote auferlegt. Wohin man sich auch wendet, überall ist immer ein positives Gebot zu erfüllen oder ein Verbot zu beobachten. Wenn es G-tt gefällt, uns die Einhaltung so vieler Gebote und Gebräuche vorzuschreiben, warum macht Er uns die Bürde dann nicht ein bisschen leichter? Warum hat Er es uns nicht leichter gemacht, unseren Lebensunterhalt zu verdienen? Hätten wir nicht so viele Sorgen und Verantwortungen auf uns lasten, dann wäre es uns eher möglich, Seine Mizwot auszuüben. Nein, noch mehr: Warum hat G-tt es nicht so gefügt, dass wir ganz von der Welt abgesondert leben können, in einer ruhigen, vergeistigen Atmosphäre von Tora-Studium und Gebeten? Warum will Er, dass wir in der Welt leben, als Glieder der menschlichen Gesellschaft, und dabei doch Seine Vorschriften erfüllen – in anderen Worten, dass wir ein spirituelles Leben in einer materiellen Welt führen?"
Diese ganze Fragestellung ist eine direkte Parallele zu einer Frage, die wir hinsichtlich Jakobs Reise von Beerscheba nach Haran aufwerfen können (Haran als Gegensatz zum friedvollen Beerscheba: s. Raschi zu Genesis 11, 32). Jakob sollte der "Erwählte der Stammväter" werden (Bereschit Rabba 76, 1; Sohar 1, 119b; 2, 147b), zwölf Söhne zeugen und diese so aufziehen, dass sie sich als die Häupter der erhabenen zwölf Stämme Israels eignen würden. Sie mussten auf jeden Fall eine spirituelle Erziehung genießen. Der für diese Erziehung günstige Atmosphäre und Umgebung wäre doch sicherlich die von Beerscheba gewesen. Doch die Tora zeigt das gerade Gegenteil an. Jakob musste Beerscheba verlassen und die Familie der zwölf Stämme in Haran großziehen, im Hause des heimtückischen Laban, wobei er gleichzeitig unter den schwersten Verhältnissen als Hirte sein Brot verdienen musste!
Dennoch, und ungeachtet dieser starken Hindernisse, brachte Jakob er fertig, das "Haus Israel" zu gründen, und zwar derart, das alle seine Kinder perfekt waren (Talmud, Schabbat 146a; Sifri zu Deut. 32, 9). Darin lag der Gegensatz sowohl zu Abraham, der (neben Isaak) auch den Ischmael zeugte, wie auch zu Isaak, dessen älterer Sohn der nichtwürdige Esau war.
Hier denn haben wir die eindeutige Antwort auf die obigen Fragen. Das beste Öl kommt dann aus der Olive, wenn diese zerstoßen und stark gepresst wird. Ähnlich ergeht es dem Juden: Wenn er dadurch geprüft wird, dass er sich fremden Einflüssen von allen Seiten ringsum ausgesetzt sieht, dann erst kommen seine besten Eigenschaften zu ihrem Recht. Und wenn er die Prüfung besteht, dann kann er das "Haus Israel" aufbauen – ein jüdisches Heim gründen, in dem Licht und Wärme von Tora und Mizwot ausstrahlen.
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