Im Talmud steht geschrieben, dass unsere Vorväter bereits alle Mitzwot erfüllten, noch bevor die Thora dem Volk Israel am Berg Sinai übergeben wurde.1 Jakow bezeugte sogar über sich selbst: „Ich wohnte mit Lawan und habe die 613 Mitzwot erfüllt.“2 Doch unser Wochenabschnitt erzählt, dass Jakow zwei Schwestern zu seinen Frauen genommen hatte, was ein ausdrückliches Verbot in der Thora ist: Nimm keine Frau zu ihrer Schwester dazu!3
Hidur Mitzwa
Die Erklärung dazu lautet: Die Vorväter erfüllten zwar alle Mitzwot der Thora, doch sie waren dazu nicht verpflichtet. Sondern sie taten dies, um G-tt auf vorzügliche Weise dienen zu können (Hidur Mitzwa). Verpflichtet waren sie nur, die sieben Noachidischen Gebote4 und ihre Abzweigungen, wie alle Menschen, zu erfüllen. Wenn deshalb vorkam, dass eine Mitzwa der Thora (welche für sie nicht verpflichtend war), einem Gebot der sieben Noachidischen Gebote in dem Weg stand, durften sie nicht der Mitzwa der Thora nachgehen, auf Kosten des Gebots der sieben Noachidischen Gebote. Denn zu den Letzteren waren sie verpflichtet, während die Mitzwot der Thora nur ein Bonus (Hidur Mitzwa) waren, zu dem sie nicht verpflichtet waren.
Eines der Verbote, die zu den Abzweigungen der sieben Noachidischen Gebote gehören, ist Betrügen. Deshalb regte sich Jakow bei Lawan auf: Warum hast du mich betrogen?!5 Er wusste zwar, dass Lawan nicht besonders ehrlich war, doch für Betrug konnte er mit ihm vor Gericht gehen. Dies begriff auch Lawan und deshalb entschuldigte er sich. Denn Betrügen galt als echtes Verbot des Noachidischen Kodex.
Und dieses Verbot war es, welches Jakow dazu brachte, zwei Schwestern zu heiraten.
Verbot zu betrügen
Jakow versprach Rachel, dass er sie zur Frau nehme. Doch nach der ersten Hochzeitsnacht stellte sich heraus, dass Lawan ihn betrogen hatte! Er gab ihm Lea anstatt Rachel.
Nun stand Jakow vor einem großen Dilemma: Sollte er nicht sein Versprechen an Rachel erfüllen und sie als zweite Frau neben Lea nehmen, würde er das Verbot zu betrügen übertreten (denn er hat es ja Rachel versprochen) und außerdem Rachel viel Leid antun; weil er ihr das Herz gebrochen hätte und weil sie nun mit dem bösen Esaw heiraten müsste.
Doch andererseits wollte Jakow nicht zwei Schwestern heiraten, um die Mitzwot der Thora einzuhalten.
Da sich aber seine Pflichten (die sieben Noachidischen Gebote) mit dem Willen, G-tt auf vorzügliche Weise zu dienen (Mitzwot der Thora), nicht vereinbaren ließen, musste sich Jakow für das Richtige entscheiden: Er heiratete Rachel, um sein Versprechen einzuhalten und verzichtete auf die Hidur Mitzwa (das Verbot, zwei Schwestern zu heiraten).
Nicht auf Kosten anderer
Aus Jakows Verhalten können wir vieles lernen. Die Mitzwot der Thora sind allesamt verpflichtend, es gibt aber auch vieles im Judentum, das eine Hidur Mitzwa ist; z.B. das Amida-Gebet ist verpflichtend, Psalmen-Lesen nach dem Gebet ist eine Hidur Mitzwa.
Es ist falsch, wenn jemand eine Hidur Mitzwa macht und dabei eine verpflichtende Mitzwa vernachlässigt. Weiters ist es falsch, wenn jemand eine Hidur Mitzwa macht, die auf Kosten der zentralen Mitzwa Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst6 geht.
Damit ist nicht nur gemeint, dass man einem anderen Juden wegen einer Hidur Mitzwa nicht aktiv schaden darf (z.B. viel Zedaka (Geldspende) geben, obwohl die eigene Familie darunter leiden würde), sondern wegen einer Hidur Mitzwa darf man einen anderen Juden auch nicht vernachlässigen:
Es gibt Juden, die nicht einmal Grundkenntnisse im Judentum haben und so welche, die viel in ihre eigene, religiöse Perfektion investieren. Letztere müssen sich fragen: Inwiefern sind sie besser, als ihre Brüder, dass sie G-tt auf vorzügliche Weise dienen dürfen, während ihren Brüdern jüdische Basiskenntnisse fehlen?!
Es wäre in der Tat besser, dass sie auf ihre eigene Perfektion verzichten, um dem Nächsten grundlegende Mitzwot beizubringen!
(Likutej Sichot, Band 5, Seite 141)
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