Die folgende Episode ist aus dem Tagebuch des vorigen Lubawitscher Rebben, R. Josef Jizchak Schneersohn sel. A., entnommen. Der Vorfall trug sich zu, als er erst neun Jahre alt war.

Im Jahre 5649 (1889) wurde der Siddur (das Gebetbuch) "Tora Or" veröffentlicht. Mein Vater liess mich in sein Zimmer kommen, um Gebete aus dem Siddur vorzutragen. Ich musste die Gebete lesen und ihren Text dann übersetzen. Doch merkte ich bald, dass er mit dem Ergebnis nicht recht zufrieden war, insbesondere mit meiner Aussprache der Wörter, weil ich den Akzent nicht immer auf die richtige Silbe legte.

Deshalb engagierte er einen Lehrer für mich - sein Name war Rabbi Jizchak Gerschon -, der mich zweimal die Woche in der Übersetzung der Gebete und ihrer richtigen Aussprache unterrichtete. Innerhalb von zwei Wochen hatte ich die Übersetzung aller Wörter gelernt und kannte sie genau; was aber das fehlerlose Lesen der Wörter anging - nun, daran haperte es noch. Es war ganz eigenartig: des Abends, beim Unterricht, ging alles ganz gut, aber am nächsten Morgen musste ich zu meinem Kummer herausfinden, dass ich vergessen hatte, welche Silbe zu betonen war, ob die obere oder die untere (das ist: die vorletzte oder die letzte Silbe eines Wortes).

Einmal machte ich es während der Unterrichtsstunde besonders gut, und mein Lehrer war durchaus zufrieden mit mir. Ich aber war nicht sehr froh darüber, denn tief im Herzen wusste ich wohl, dass ich alles bald wieder vergessen würde. Als ich in das Zimmer meines Vaters kam, erzählte ich ihm, mit Tränen in den Augen, wie schwer es mir fiel. Ich war darauf gefasst, dass er mich sehr schelten würde. Mein Vater jedoch regte sich gar nicht auf, sondern statt dessen machte er sich daran, mir die wahre Bedeutung von "Akzent" zu erklären.

"Es kommt sehr darauf an," sagte mein Vater, "ob du den 'oberen' oder den 'unteren' Teil eines Wortes betonst. Denn der 'obere' Teil erinnert uns an den Himmel, der 'untere' an die Erde. Die himmlischen Dinge sind Tora und Mizwot, das ist, was G-tt uns befohlen hat, jeden Tag zu tun, und was Er uns verboten hat zu tun. Die irdischen Dinge dagegen, das ist alles andere, und sie sind nicht allzu bedeutend. Wir müssen den 'Akzent' auf die himmlischen Angelegenheiten legen; diese müssen für uns an erster Stelle stehen.

Die irdischen Dinge, das ist all das, was wir mit Mässigung geniessen dürfen; darüber sollten wir nicht zu viel Aufhebens machen, wir sollten ganz gewiss keinen übermässigen 'Akzent' auf sie legen. Dies geschieht nur, wenn wir derartige Dinge benutzen, um mit ihnen eine Mizwa zu tun. Denn die meisten Mizwot werden in Verbindung mit materiellen Dingen ausgeführt: Zizit sind aus Wolle gemacht; Tefillin sind aus Leder und Pergament hergestellt; eine Sukka wird mit Holz gebaut; Zedaka wird mit Geld getan, oder in der Form von Speise, Trank und Unterkunft; und so weiter. Und weil unser Leben von derlei Mizwot voll ist, haben die meisten Wörter in unserer heiligen Sprache den Akzent auf der 'unteren' Silbe, um uns einzuschärfen, dass wir auf materielle Sachen nur wegen ihres eigentlichen Zweckes Wert legen sollen, nämlich damit wir so G-ttes Gebote erfüllen. Wenn du dich daran stets erinnerst, mein Sohn, dann wirst du deine Schwierigkeiten los sein."

Fürwahr, dies war eine wundervolle Methode, um zu lernen, wie man den Akzent an die richtige Stelle setzt! Ich habe nie vergessen, was mein sel. Vater mich an jenem Tage mit so viel Liebe und Verständnis lehrte.

Zusammenfassende Übersicht:

Hebräische Wörter werden entweder "oben" oder "unten" betont. Der "obere" Akzent steht symbolisch für die himmlischen Dinge, der "untere" für die irdischen; und das einzige Problem ist, inwieweit auf diese "untere Betonung" Gewicht gelegt werden soll.