In allen Zeitaltern ist die Glaubensstärke des Juden vielfachen Prüfungen ausgesetzt gewesen. Und wenn auch im Einzelnen diese Prüfungen je nach Zeit und Ort unterschiedlich sind, können sie doch, ganz generell, in zwei Kategorien eingeteilt werden: Versuchungen, die durch "Armut" oder Unterdrückung hervorgerufen werden, und umgekehrt solche, die auf "Reichtum" oder Wohlergehen zurückzuführen sind. Miteinander verglichen, ist es schwieriger, der Versuchung des "Reichtums" zu widerstehen.
In seiner Schilderung der zukünftigen Erlösung unsers Volkes durch den Messias sagt der Prophet Jesaja: "... dann sollen sie zusammenkommen, jene, die verloren sind im Lande Aschur (Assyrien) und die verbannt sind im Lande Mizrajim (Ägypten) ..." (Jesaja 27, 13). Assyrien und Ägypten symbolisieren, beziehungsweise; die Prüfungen von "Reichtum" einerseits und von "Armut" andererseits (Likute Tora, Deut. 58a).
Im ägyptischen Exil litten die Juden schwerste Unterdrückung, sowohl in körperlicher wie in geistiger Hinsicht. Sie befanden sich im Zustand tiefster Versklavung, mussten harte, mühselige Arbeit leisten und waren im wahrsten Sinne verarmt; ihnen fehlten die elementarsten spirituellen (wie auch materiellen) Güter.
Im Gegensatz dazu versinnbildlicht Assyrien die Versuchung, die "Reichtum", und "Wohlstand" mit sich bringen. Im assyrischen Exil gab es keine Versklavung, sondern im Gegenteil einen Überfluss an materiellen Gütern. Auch waren die Juden keinen Staatsgesetzen unterworfen, die ihre Weltanschauung angegriffen hätten; ihren religiösen Betätigungen wurden keine Hindernisse in den Weg gestellt. Sancherib, der König von Assyrien, der die Juden in die Verbannung trieb, bezweckte lediglich, dass das jüdische Volk das Heilige Land aufgab – das Land, "auf das die Augen des Ewigen, deines G-ttes, ständig gerichtet sind, vom Beginn des Jahres bis zum Jahresende" (Deut. 11, 12) – und sich in Assyrien niederließ. Im Heiligen Lande waren sich die Juden stets der G-ttlichen Gegenwart bewusst (zum Beispiel war es ihnen vergönnt, Zeugen der Zehn Wunder im Bet Hamikdasch, dem Tempel in Jerusalem, zu sein). Sancherib wollte, dass die Juden dieses aufgaben. Er wollte, dass sie in Aschur (Assyrien) lebten, einem Land von Reichtum, Wohlstand und Vergnügungen (wie ja das Wort "Aschur" selbst so viel wie "Heil" oder "Glück" bedeutet – s. Genesis 30, 1,3). Auf diese Weise glaubte er, sie dazu bringen zu können, G-tt und Seine Gesetze zu vergessen.
Trotz dieses allgemeinen Wohlstandes im assyrischen Exil bedient sich der Prophet Jesaja (im oben zitierten Vers) des harten und drastischen Ausdruckes "verloren" in Bezug auf die Juden in Assyrien. Wo er hingegen den Zustand der Juden in Ägypten beschreibt, spricht er, in milderer Form, von "verbannt". Offenbar war das ägyptische Exil, mit all seiner Not und Unterdrückung, eine weniger strenge Prüfung als das assyrische, mit seinem Reichtum.
Auch heute müssen wir leider zusehen, wie Millionen von Juden im Zustand von Unterdrückung und Not leben, im "Ägypten" unserer Tage. Trotzdem sind sie sich weithin ihrer jüdischen Identität bewusst und haben G-tt nicht vergessen. Harte Edikte und Beschränkungen in den elementaren Rechten ihrer Religion haben es nur fertig gebracht, sie vorübergehend zu "verbannen" und zu "verstoßen"; aber innerlich sehnen sie sich nach einem "Auszug aus Ägypten", damit sie schließlich wieder ein vollkommenes jüdisches Leben im Sinne von Tora und Mizwot führen können.
Daneben sehen wir, auf der anderen Seite, die Gemeinden des heutigen "Assyrien" in der freien Welt vor uns. Wir stellen fest, dass diese Gemeinden der "Gesellschaft des Wohlstandes" ("affluent society") angehören und in völliger Freiheit leben; sie haben jede Möglichkeit, ihre Religion auszuüben und die Mizwot zu beobachten mit derselben Begeisterung und der gleichen Intensität, wie es in den osteuropäischen Gemeinden vor 50 und 100 Jahren üblich war. Jedoch haben diese "assyrischen" Juden es bislang versäumt, diese positive Chance richtig wahrzunehmen. Ihr Wohlstand und das Gefühl der Sicherheit haben sich so auf sie ausgewirkt, dass sie tatsächlich "verloren" gehen. Wie in Jesajas Tagen ist die Versuchung des Wohlstandes die stärkere von beiden, weil man ihrer so viel schwerer Herr werden kann.
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