"Der Mensch ist zu schwerer Arbeit geboren" – ein wahres Wort, das in vielerlei Hinsicht gilt, sowohl für das jüdische Volk in seiner Gesamtheit wie für jeden einzelnen Menschen. Als die Israeliten zu einem Volke geschweißt wurde, erhielt Moses von G-tt den Auftrag: "Wenn du das Volk aus Ägypten führst, dann sollt ihr G-tt an diesem Berge dienen" (Exodus 3, 12). So müssen wir stets im Auge behalten, dass Israels Befreiung aus Ägypten nicht allein das Ziel verfolgte, "in ein gutes und weites Land" zu kommen oder "seine Frucht zu essen und durch seinen guten Ertrag gesättigt zu werden".

Nein, das jüdische Volk wurde aus Ägypten befreit, damit es sich dazu aufschwinge, in den Dienst G-ttes einzutreten. Dieses Prinzip, wie es sich bei Israels Volkswerdung abzeichnet, war dasselbe Prinzip, das schon für den ersten Menschen maßgebend war: Adam wurde in den Garten Eden geführt, um "ihn zu bearbeiten und zu hüten" (Genesis 2, 15).

Daraus ergibt sich diese Frage: Aus welchem Grunde sollte der Schöpfer, in dem sich doch alle Güte vereint, vom Menschen Arbeit und Dienst verlangen, als die einzig gültige Methode auf dem Wege zur Vollkommenheit? Warum also müssen wir mühsam kämpfen und schwer arbeiten, um die vielen Hindernisse und Hürden zu beseitigen, die der Erreichung unseres Zieles im Wege stehen? Steht diese Tatsache, als solche, nicht in ausgesprochenem Gegensatz zu G-ttes unendlicher Güte?

Die Frage lässt sich schon auf rein psychologischer Grundlage beantworten: Wenn man die menschliche Natur genau analysiert, dann ergibt sich, dass gerade die Auferlegung von Arbeit, Dienstleistung und Müheverwaltung eine Tat ist, die aus G-ttes unendlicher und reiner Güte quellt. Denn wenn jemand Mühe anwendet, verdient er seinen Lohn; und selbst dort, wo er sich gar nicht sonderlich anstrengt, sondern einem andern lediglich einen Gefallen tut, kann auch dies ihm schon einen Lohn einbringen. Überall aber, wo diese Motivierung fehlt und man etwas ganz umsonst erhält, einfach als ein Geschenk oder als etwas, das wie Almosen aussieht, ist dies wie ein "Brot der Schande". Es befriedigt nicht, im Gegenteil, es betrübt.

Unsere Weisen illustrieren diesen Begriff "Brot der Schande" am Beispiel einer Braut, die beim Genuss ihres Hochzeitsmahles ihr Gesicht in Scham abwendet: Da sie selbst noch nichts getan hat, um ihren Haushalt zu gründen oder diesen zu unterhalten, fühlt sie, dass sie dieses Mahl nicht verdient hat; also ist es ein bloßes Geschenk, ein "Brot der Schande".

Der Talmud (Baba Mezia 38a) lehrt: Wenn jemand bei seinem Nachbarn seine Früchte (oder anderen Feldertrag) in freie Aufbewahrung gibt, während er selbst verreist ist, und das Aufbewahrte zu faulen beginnt, ist es – nach einer Ansicht – angebracht, dass der Nachbar die Früchte verkaufen soll, bevor alles verfault, um auf diese Weise seinen Freund vor einem Geldschaden zu bewahren. Nach einer anderen Ansicht jedoch soll der Nachbar nichts anfassen, denn "ein Mann hat lieber ein Kav (ein Hohlmaß) seiner eigenen Ware als neun von seines Nachbarn Eigentum".

Das heißt also: Sein Freund hätte lieber die kleinere Menge von selbst geernteten Früchten, die vor Fäulnis noch bewahrt werden konnten, als die viel größere Menge von Früchten aus dem Ertrag eines anderen, die er mit dem Gelderlös kaufen könnte. Er wertet seine eigenen Früchte höher, eben weil er, um sie ernten zu können, schwer gearbeitet hat. Ein ehrlich verdientes Maß, produziert durch seine Hände Arbeit, ist mehr wert als – nicht ein oder zwei Maße eines anderen – sondern sogar neun!

G-tt wollte, dass es uns auf bestmögliche Weise "wohlergehen" möge, er wollte uns nicht nur das Beste angedeihen lassen. Er wollte auch, dass wir Seiner Güte in der für uns besten Weise teilhaftig werden. So schuf Er die Menschheit, dass sie arbeite, und das jüdische Volk, dass es diene. Hätte G-tt dies nicht getan, hätte Er statt dessen Seine Segnungen umsonst gegeben, dann hätten wir zwar gewaltige Werte erhalten, es hätte sich indessen um ein nicht verdientes "Brot der Schande" gehandelt. Das wäre uns widerwärtig gewesen, denn die allertiefste, vollkommenste Güte G-ttes wäre hierdurch nicht zum Ausdruck gekommen.