Wie unendlich ist die Tora? Wie oft können Sie eine Passage lesen und jedes Mal etwas Neues daraus lernen? Natürlich lesen manche Menschen die Tora ihr Leben lang – nicht nur die fünf Bücher, sondern auch die Propheten und die Schriften und den Talmud und andere gelehrte Kommentare – und haben noch im hohen Alter Aha-Erlebnisse, wenn sie Worte oder einen Sätze lesen, die sie schon oft gesehen haben.
Vielleicht sind Sie nicht so eifrig. Dann haben Sie um so mehr Freude, denn jedes Mal, wenn Sie die Tora lesen – irgendwann in Ihrem Leben und auf jeder beliebigen Wissensstufe -, warten viele Wunder auf Sie.
Der Wochenabschnitt Wajeze bringt ein interessantes Beispiel eines Ereignisses, das man aus vielen Blickwinkeln betrachten kann. Jaakow reist ins Land Charan und begegnet Lawans jüngerer Tochter Rachel. Er ist sofort hingerissen; er küsst sie und weint. Er zweifelt nicht daran, dass sie für ihn bestimmt ist, und wir haben ebenfalls keinen Zweifel. Aber Lawan ist schlau. Er verspricht Jaakow, ihm Rachel zu geben; dann erreicht er durch eine List, dass Jaakow die ältere Tochter Lea heiratet. Erst wenn dem Brauch Genüge getan ist (dass die ältere Tochter zuerst heiraten muss), will er Rachel mit Jaakow verheiraten.
Auf diese Familie kommen noch mehr Prüfungen zu. Schauen wir uns eine der wichtigsten an: Trotz seiner überwältigenden Liebe zu Rachel kann Jaakow zuerst nur mit Lea Kinder haben. Die verzweifelte Rachel bittet ihn, mit ihrer Magd ein Kind zu zeugen, und er tut es. Elf Kinder werden Jaakow geboren, und Rachel ist immer noch kinderlos. Dann geschieht ein Wunder: Sie bringt Josef zur Welt, den jüngsten und, wie sich herausstellt, begabtesten Erben Jaakows. Wir wissen noch nicht, was für ein erstaunliches Leben diese Familie führen wird. Wir wissen nur, dass Jaakow und Rachel, die sich auf so romantische Art trafen und offenbar füreinander bestimmt waren, einen langen, harten Weg hinter sich haben.
Was lernen wir aus Rachels Geschichte? Man könnte sagen, G-tt habe ein einzigartiges Geschenk für sie gehabt, und ihre Wertschätzung drücke sich im Warten aus. Oder war Rachels und Jaakows Liebe so groß, dass sie keine Kinder brauchten? Lea wird anfangs „gehasst“, weil ihr Vater betrogen hat; aber sie wird mit sechs Söhnen und einer Tochter gesegnet und getröstet. Die Tochter ist ebenfalls interessant: Dina wird von Lea geboren, kurz bevor Rachel dem Josef das Leben schenkt. Hat dieser überraschende Wandel eine Bedeutung? Sollte Jaakow eine Tochter und schließlich mit Rachel einen Sohn mit glorreicher Zukunft haben?
G-tt sagt es uns nicht. Er besucht Jaakow oder Rachel nicht und erklärt ihnen nicht, warum Rachel warten musste und warum Jaakow so viele andere Söhne und nur eine Tochter hat. Aber in den folgenden Jahren entdecken sie in ihrem sich entfaltenden Leben viele Bedeutungen.
Es dauert Jahre, bis wir wissen, wie wichtig unser Leben ist, und wir brauchen ein Leben lang, um die Fragen zu beantworten, die sich bei der Lektüre der Tora stellen. Aber beim Lesen vermitteln die auftauchenden Fragen uns eine Lektion nach der anderen.
G-tt gibt uns Antworten. Manche sind offenkundig, etwa die Gebote. Andere müssen wir selbst suchen und finden. Wie? Indem wir die Tora lesen und über ihre Tiefe staunen. Indem wir jedes Mal, wenn wir die Tora öffnen, unsere Lektion lernen, eine nach der anderen. In diesen Lektionen stehen Wegweiser, die uns zeigen, wie wir leben sollen. Jedes Mal, wenn wir die Tora lesen.
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